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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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Kavita beruhigt feststellt. Die Wände sind etwas vergilbter und die Fußböden haben ein paar Risse mehr bekommen, aber ansonsten sieht ihr Elternhaus unverändert aus. Wie wird Bapu aussehen?
    »Versprich dir nicht zu viel, Kavi. Er ist nicht mehr der Alte, das alles hat ihn ganz schön mitgenommen«, sagt Rupa und trinkt einen Schluck Tee. »Gestern Nacht ist er aufgewacht und hat nach Ba gerufen, und ich hab lange gebraucht, um ihn so weit zu beruhigen, dass er wieder eingeschlafen ist.« Sie seufzt, stellt ihren Becher hin und fängt an, sich den Saum ihres Saris um den Finger zuwickeln, eine nervöse Geste, die Kavita noch aus ihrer gemeinsamen Kindheit in Erinnerung hat. »Er merkt nicht mehr, wann er zur Toilette muss, aber er merkt, dass seine Frau die erste Nacht seit fünfzig Jahren nicht mehr neben ihm schläft.« Rupa schüttelt den Kopf. »Ich verstehe es nicht so ganz, aber das muss eine starke Liebe sein.«
    Die Pflegerin kommt ins Wohnzimmer und gibt Rupa mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass ihr Vater gewaschen, angezogen und empfangsbereit ist. »Sie ist für uns ein Segen, Kavi«, sagt Rupa leise, als sie aufstehen. »Sie geht so geduldig mit Bapu um, selbst wenn er unleidlich ist. Und Ba hat sie geliebt …« Bei der Erwähnung ihrer Mutter bricht Rupa die Stimme, und Kavita spürt, dass sich ihr eigenes Gesicht verzieht. Sie umklammern einander, wie sie es früher als kleine Mädchen immer taten, als sie das Bett miteinander teilten. »Wir müssen stark sein für Bapu«, sagt Rupa und wischt erst ihrer Schwester und dann sich selbst mit dem verdrehten Saum ihres Saris die Tränen ab. »Komm, bena .« Sie umfasst fest Kavitas Hand, und sie betreten das Schlafzimmer.
    Das Erste, was Kavita an ihrem Vater auffällt, der mit ausgestreckten Beinen auf dem Bett sitzt, ist sein hohles Gesicht. Die Wangen sind eingefallen, und die Kieferpartie umrahmt ein deutlich schmaleres Profil, als sie es in Erinnerung hat. Sie eilt zu ihm, fällt neben dem Bett auf die Knie und berührt mit dem Kopf seine Füße. Erschrocken spürt sie die scharfen Kanten seiner Beinknochen durch das Laken. Und dann spürt sie die vertraute Berührung seiner Hand auf dem Kopf.
    »Mein Kind«, sagt er mit heiserer Stimme.
    »Bapu?« Kavita blickt ihn hoffnungsvoll an. »Erkennst du mich?« Sie setzt sich neben ihn aufs Bett und nimmt behutsam seine zerbrechlichen Hände in ihre.

    »Natürlich, dhikri , erkenne ich dich.«
    Sie bemerkt das milchige Grau des Glaukoms, das seine Augen befallen hat, sodass er nur noch unmittelbar vor sich vage Schatten wahrnehmen kann.
    »Rupa beti , wo ist deine Ba denn nun wieder hin? Bitte sag ihr, ich will sie sehen.« Während er die Worte spricht, blickt er Kavita direkt an. Sie weicht kurz zurück, als ihr zweierlei klar wird. Ihr Vater erkennt sie nicht und er hat außerdem noch immer nicht begriffen, dass ihre Mutter tot ist. Sie ist ratlos, was sie als Nächstes tun soll, als Rupa sich auf die andere Seite des Bettes setzt.
    »Bapu, das ist Kavita. Sie ist heute gekommen, extra aus Mumbai!« Rupas Stimme ist gezwungen fröhlich.
    »Kavita«, wiederholt ihr Vater, der jetzt Rupas Stimme folgt und sie anblickt. »Kavita, wie geht es dir, beti? « Er hebt eine Hand an Rupas Wange. »Weißt du , wo deine Mutter ist?«
    Rupa antwortet ihm sanft, als würde sie mit einem Kind sprechen. »Bapu, wir haben doch schon darüber gesprochen. Ba ist von uns gegangen. Sie war lange krank und jetzt ist sie gestorben. Die Einäscherungszeremonie ist morgen.«
    Kavita sieht, wie ein kurzer Ausdruck des Begreifens über das hagere Gesicht ihres Vaters huscht, eine schmerzliche Traurigkeit in diesen Augen, die ansonsten nichts sehen können. Er lehnt sich zurück gegen sein dünnes Kissen und schließt die Augen. » Ay, Ram «, betet er leise. Kavita schließt ebenfalls fest die Augen, und die Tränen quellen hervor und laufen ihr über die Wangen. Sie hebt die Hand ihres Vaters ans Gesicht und küsst sie.
    »Du musst dich nicht schlecht fühlen, Kavi. Er erkennt mich manchmal auch nicht, und ich bin jeden Tag beiihm«, sagt Rupa, die ein thali abspült und es ihrer Schwester reicht.
    Die Äußerung ist gut gemeint, reißt aber bei Kavita eine frische Wunde auf, eine Erinnerung daran, dass sie nicht für ihre Familie da war. » Achha , ich weiß, schon gut«, antwortet Kavita ergeben und trocknet das thali mit einem Geschirrtuch ab.
    »Bas Tod ist furchtbar schlimm für ihn. Es ist, als würde er jetzt das

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