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Geheime Tochter

Geheime Tochter

Titel: Geheime Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shilpi Somaya Gowda
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wir machtlos«, sagt Jasu, der sich jetzt große Mengen Essen in den Mund schaufelt.
    »Ich weiß nicht, Papa, tu irgendwas. Gib ihm das Geld. Prügel dich mit ihm. Tu was! Egal was. Aber bettel ihn nicht immer bloß an.«
    Kavita schnappt nach Luft und geht instinktiv zu ihrem Sohn. Plötzlich ist Jasu aufgesprungen und steht mit einem Schritt vor Vijay, droht ihm mit der Faust. »Pass auf, was du sagst! Denkst du, du bist besser als dein Vater, nur weil du in der Schule deine hochgestochenen Bücher lesen kannst? Ich schufte mich jeden Tag für dich ab. Du hast doch keine Ahnung!« Er blickt nach unten auf sein halb verzehrtes Abendessen und versetzt dem thali einen Tritt, dass es scheppert. »Ich kann kein dal-bhath mehr sehen.« Er dreht sich um und geht. »Ich kann’s nicht mehr sehen.«
    Kavita folgt ihm zur Tür. »Jasu, er ist doch noch ein Kind. Er weiß nicht, was er sagt.« Sie sieht zu, wie er in seine chappals schlüpft. »Wo willst du hin?«
    »Raus. Weg von hier.« Er knallt die Tür hinter sich zu.
    Kavita steht einen Moment da und starrt die geschlossene Tür an. Sie spürt, wie ihre Angst in Groll gegen sie alle umschlägt – Manish, Jasu und Vijay –, weil sie ihren Zorn wie Benzin um sich spritzen, die Landschaft ihres Lebens in verbrannte Erde verwandeln. Sie atmet tief ein und dreht sich dann zu ihrem Sohn um. Er ist doch noch ein Kind.
    »Vijay«, sagt sie, geht zu ihm und packt ihn an denSchultern. »Was ist los mit dir? Untersteh dich, so mit deinem Vater zu sprechen.« Vijays Blick durchbohrt sie, ein stählerner Ausdruck in seinen jugendlichen Augen. »Hör mal, Papa regelt das alles schon.« Sie streicht ihm mit dem Handrücken über die Wange, merkt, dass ihm die ersten Gesichtshaare sprießen. »Mach dir keine Sorgen, beta . Konzentrier dich lieber aufs Lernen.« Sie führt ihn am Arm zurück zu seinen Büchern.
    Vijay entwindet sich ihrem Griff und tritt wütend gegen die Bücher auf dem Boden. »Wieso? Wieso soll ich lernen? Ist doch reine Zeitvergeudung. Siehst du das denn nicht? Was nützt uns das, Ma? Du sagst, ich soll fleißig sein. Aber es nützt uns überhaupt nichts.«
    Sie sieht, wie er sich umdreht und auf den Balkon geht, der einzige Ort in der winzigen Wohnung, wohin er sich zurückziehen kann, wenn er mal ein bisschen ungestört sein will. So große Träume, genau wie sein Vater . Wann hat ihr kleiner Junge angefangen, sich die Sorgen eines Mannes zu machen? Ohne sich erst auszuziehen, legt sie sich in das Bett, das sie mit Jasu teilt, vergräbt das Gesicht in das dünne, muffige Kissen und weint fast lautlos. Sie liegt eine Weile im Dunkeln wach, bis sie das Knarren der Balkontür hört und dann das tiefe, schwere Atmen, das sie überall als das ihres Sohnes erkennen würde.
    Irgendwann in den frühen Morgenstunden hört sie, wie die Wohnungstür auf- und zugeht. Als Jasu neben ihr ins Bett steigt, riecht Kavita seinen Atem. Sie muss an die schrecklichen ersten Wochen in den Slums von Bombay denken, wo der Gestank von Alkohol in der Nachtluft lag. Sie muss an den süßlichen Geruch von gegorener chickoo-fruit denken, den sie in der Nacht roch, als Jasu in die Geburtshütte gestürmt kam. Jedes Mal war dann irgendetwas Furchtbares passiert.

26
Sechzehn Jahre
    Menlo Park, Kalifornien – 2000
Asha

    Asha betritt früh das fensterlose Redaktionsbüro des Harper School Bugle , der Schülerzeitschrift ihrer Highschool, wo sie meistens ihre Mittagspause und Freistunden verbringt. Sie setzt sich zu Clara, der Redakteurin, und Ms Jansen, ihrer Beratungslehrerin, an den Tisch und holt Notizbuch und Bleistift hervor. Asha kann sich nie dazu überwinden, mit Kuli oder Füller zu schreiben. Sie findet die Dauerhaftigkeit von Tinte beunruhigend, das Gefühl, das Geschriebene nicht rückgängig machen zu können.
    »Okay«, sagt Clara. »Wie weit sind wir mit den Artikeln für die Jubiläumsausgabe zum Hundertjährigen, die nächsten Monat an alle Ehemaligen gehen soll? Asha?«
    Asha nimmt auf ihrem Stuhl Haltung an. »Also, in Anbetracht des hundertjährigen Jubiläums unserer Schule fand ich es wichtig, einmal einen Blick auf unsere Geschichte zu werfen. Wie wir alle wissen, hat Susan Harper diese Schule mit ihrem Familienvermögen unterstützt.« Sie blickt in gelangweilte Gesichter rund um den Tisch. Der Name Susan Harper ist allen hier seit Jahren geläufig. »Aber das Vermögen stammte von ihrem Mann, Joseph Harper, und seinem Unternehmen United Textiles, einem der größten

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