Geheime Tochter
hält.
Hastig sammeln die Jungen ihre Taschen auf und laufen noch immer lachend zur Straße. Kavita wendet sich um und mustert ihren Sohn, um den Schaden zu begutachten. Seine Unterlippe ist geschwollen, er hat ein paar Schrammen an der Wange und Tränen laufen ihm übers Gesicht. Sie setzt sich hin und zieht ihn herüber auf ihren Schoß, damit sie seinen ganzen Körper in den Armen halten kann. Sie wiegt ihn hin und her und spürt die Nässe an seinen Shorts und innen an den Oberschenkeln. »Ist ja gut, mein liebes Kind, es wird alles wieder gut.« Doch noch während sie diese Worte ausspricht und versucht, möglichst ruhig zu bleiben, suchen ihre Augen den Schulhof und die Straßen hinter dem Tor nach anderen Gefahren ab, die in dieser fremden Stadt anscheinend in immer neuen Formen auftauchen.
November 1997
Ich wünschte, Du wärest da, um mir zu helfen.
Ich bin in der achten Klasse und soll für Gemeinschaftskunde eine Biografie über mich schreiben, aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich weiß nicht, wo ich wirklich herkomme. Wenn ich meine Mom frage, erzählt sie mir bloß jedes Mal dieselbe Geschichte – sie haben mich aus dem Waisenhaus in Indien geholt, als ich noch ein Baby war, und mich mit nach Kalifornien genommen.
Sie weiß gar nichts über Dich oder warum Du mich weggegeben hast. Sie weiß nicht, wie Du aussiehst. Wir sehen uns bestimmt ähnlich, und ich wette, Du wüsstest, was ich mit meinen buschigen Augenbrauen anstellen soll. Meine Mom spricht überhaupt nicht gern über so was. Sie sagt, ich bin jetzt genau wie alle anderen und ich soll mir keine Gedanken machen.
Mein Dad hat mir geholfen, ein paar Fotos für mein Projekt zu finden. Er hat so ein altes Album mit Schwarz-Weiß-Fotos und dünnen Zwischenblättern rausgekramt. Da waren Fotos von ihm in seiner Cricketmontur drin und von seinem Onkel auf einem weißen Pferd bei seiner Hochzeit.
Er hat mir von dem Drachenfest erzählt, das indische Kinder im Januar feiern, und von dem Frühlingsfest, wo sich alle gegenseitig mit Farbpulver bewerfen. Das hört sich lustig an.
Ich war noch nie in Indien.
25
Überfällig
Mumbai, Indien – 1998
Kavita
Kavita probiert das dal und fügt noch mehr Salz hinzu, um die dünne Linsensuppe etwas schmackhafter zu machen. Sie bereitet zwei thalis mit Reis und dal vor, gibt dann auf das von Vijay noch etwas Mango-Pickle, damit das schlichte Mahl, das sie in letzter Zeit häufig auftischt, etwas pikanter schmeckt. Sie essen allein, weil Jasu wieder länger arbeitet. Er macht fast jeden Tag Überstunden und übernimmt Zusatzschichten. Nachdem die Fahrradfabrik nach einer Polizeirazzia schließen musste, hatte er viele Monate gebraucht, um wieder Arbeit zu finden. Sie waren gezwungen gewesen, zu einem Geldverleiher zu gehen, um die Miete und die Schulgebühren für Vijay zahlen zu können, bis Jasu endlich einen neuen Job in einer Textilfabrik fand. Jetzt geht so gut wie jede paisa an den Geldverleiher, und noch immer haben sie erst die Hälfte abbezahlt. Sie sind mit dem Schulgeld und auch mit der Miete im Rückstand. Sie haben gehofft, ihr Vermieter Manish würde Verständnis haben, zumal sie ihm in den acht Jahren, die sie hier wohnen, noch nie Probleme beschert haben. Aber die Mieten steigen in ganz Mumbai, und Manish will alte Mieter loswerden, damit er höhere Mieten verlangen kann.
»Was hast du heute in der Schule gelernt, Vijay?« Kavita freut sich immer den ganzen Tag darauf, was er zu erzählen hat.
»Immer dasselbe, Mummy. Multiplizieren, potenzieren. Der Lehrer sagt, ich muss ordentlich lernen, damit ich den Stoff aufhole.«
» Achha «, sagt sie langsam. Sie trägt ihr leeres thali zur Spüle und beschäftigt sich mit dem Abwasch, damit ihr Sohn nicht sieht, wie ihre Augen feucht werden. Es ist ihre Schuld. Vijay arbeitet seit ein paar Wochen nachmittags mit ihr zusammen im Haus des Sahib. Einer der regulären Botenjungen ist krank geworden, und Memsahib hat gefragt, ob Vijay ihre Bluse vom Schneider abholen könne. Sie hat ihm fünfzig Rupien bezahlt und ihn gebeten, am nächsten Tag wiederzukommen. Seitdem macht er jeden Nachmittag Botengänge, Zeit, die er früher für die Schulaufgaben verwendete. Sie und Jasu fanden, es würde schon nicht schaden, wenn sie so schneller ihre Schulden beim Geldverleiher abbezahlen könnten. Jetzt sieht sie ein, wie töricht das war. Sie haben die Ausbildung ihres Sohnes gefährdet, seine einzige Chance auf ein besseres Leben, und das für
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