Geheimnis der Liebe: Roman (German Edition)
entglitten ihren Händen. Sie konnte die Wahrheit nicht länger leugnen. Ihre Arbeit hier war getan. Gabriel brauchte sie nicht mehr. Er war wieder dort, wo er hingehörte – im Schoß seiner Familie.
Sie rutschte vom Bett, ging zum Schrank und zog ihr abgestoßenes Lederköfferchen heraus. Sie stellte es neben das Bett und klappte es auf, dann hob sie den Deckel ihrer Truhe an.
Sie hätte nie gedacht, dass sie je ihren Kleidern aus hässlichem Serge oder den praktischen Wollstrümpfen nachtrauern würde, die sie seit ihrer Ankunft auf Fairchild Park immer getragen hatte. Doch mit einem Mal wollte sie nichts lieber tun, als ihr Gesicht darein zu drücken und zu weinen. Die Sachen sanft beiseite schiebend, fischte sie ein sauberes Hemd und einen Unterrock heraus und verstaute beides in der Reisetasche, zusammen mit einem dünnen Band von Marlowes Gedichten. Sie wollte die Truhe gerade schließen, als eine Ecke cremefarbenes Briefpapier ihre Aufmerksamkeit erregte.
Gabriels Briefe.
Sie hatte versucht, sie so tief wie möglich in der Truhe zu vergraben, damit sie auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Und doch waren sie wieder da, so verlockend und unwiderstehlich wie an dem Tag, da sie sie erhalten hatte.
Samantha zog das Bündel an dem Band heraus und ließ den Deckel der Truhe zufallen. Sie setzte sich auf die Bett-kante, fuhr mit den Fingerspitzen über das Papier, das von dem wiederholten Anfassen so dünn und brüchig war, dass es unter ihrer Berührung zu zerbröseln drohte. Sie konnte sich vorstellen, wie Gabriel das feine Leinenpapier mit seinen kräftigen Händen zärtlich streichelte, jedes Wort wog, als ob es aus Gold sei.
Sie wusste, sie würde sich später dafür hassen, aber sie konnte einfach nicht widerstehen und öffnete das Band, das die Briefe zusammenhielt. Gerade, als sie das erste Schreiben auffaltete und ins Licht der Talgkerze auf dem Tisch neben ihrem Bett hielt, um besser lesen zu können, klopfte es an ihrer Tür.
Samantha sprang schuldbewusst auf. Wild schaute sie sich im Zimmer um, gab dem Köfferchen einen Tritt, sodass es unters Bett segelte. Sie war schon auf halbem Weg zur Tür, als ihr die Briefe in ihrer Hand wieder einfielen.
Es klopfte erneut, diesmal bereits ungeduldiger.
»Einen Augenblick, bitte!«, rief sie, ehe sie wieder zum Bett stürzte und die Briefe unter die Matratze steckte.
Sie öffnete die Tür. Gabriel stand auf der Schwelle, nur mit einem Morgenrock aus tannengrüner Seide bekleidet. Bevor sie auch nur ein Wort ausstoßen konnte, griff er nach ihr. Ihr Gesicht zwischen seine Hände nehmend, senkte er den Kopf und küsste sie mit solcher Leidenschaft und Zärtlichkeit, dass ihr der Atem stockte. Als er seine Lippen schließlich von ihren löste, war ihr schwindelig vor Verlangen.
»Auch Ihnen einen guten Abend, Mylord«, flüsterte sie, leicht hin und her schwankend.
Sie zur Seite schiebend, trat Gabriel ins Zimmer. Er warf die Tür hinter sich ins Schloss und lehnte sich dagegen.
»Was ist?« Samantha warf einen besorgten Blick zur Tür. »Wirst du von Barbarenhorden verfolgt?«
»Schlimmer. Es ist meine Familie.« Er fuhr sich mit einer Hand durch das ohnehin schon wirre Haar. »Sie haben sich in dem Haus wie ein Schwarm Tauben eingenistet. Ich dachte schon, es würde mir nie gelingen, ihnen zu entkommen. Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, sich an jemandem vorbeizuschleichen, den man nicht sehen kann?«
Dankbar, dass er ihre verquollenen Augen und die Tränenspuren auf ihren Wangen ebenfalls nicht sehen konnte, sagte sie leichthin: »Glaubt man Dr. Gilby, musst du dir deswegen keine Gedanken mehr machen, nicht wahr?«
Er schüttelte den Kopf, als könne er sein Glück immer noch nicht fassen. »Erstaunlich, nicht? Aber willst du das Verwunderlichste überhaupt wissen?« Er fasste erneut nach ihr, und seine suchende Hand schloss sich um ihr schlankes Handgelenk. »Als Dr. Gilby mir erzählt hat, dass ich wieder völlig genesen würde, wurde mir klar, was ich am sehnlichsten in der Welt sehen wollte: dein süßes Gesicht.«
Samantha wandte eben dieses Gesicht ab. »Ich fürchte, du wirst ernstlich enttäuscht sein.«
»Das ist ganz unmöglich.« Alle Spuren von Humor verschwanden aus seinem Ton, ließen ihn merkwürdig ernst klingen. »Du könntest mich nie enttäuschen.«
Sich auf die Lippen beißend, entwand sie ihm ihr Handgelenk und entfernte sich ein paar Schritte. Sie hatte weniger Angst davor, dass er sie erneut küssen könnte, als vor
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