Geheimnis des Feuers
sie als Trage benutzen können.«
Dann kroch er auf Knien zu dem anderen Mädchen, das vornübergefallen dalag. Er versuchte ihren Puls zu fühlen.
Sie ist tot, dachte er. Himmel, das halte ich nicht aus.
Dann fand er ihren Puls. Er war sehr schwach.
Im selben Augenblick hörte er Schwester Ruts Stimme. Sie kam angelaufen.
»Sie leben!«, schrie José-Maria.
Er richtete sich auf zitternden Beinen auf, während Rut sich nacheinander über beide Mädchen beugte. Sie hatte eine Tasche bei sich und begann hastig erst Sofia und dann Maria mit verschiedenen Druckverbänden zu versorgen.
Eine der Frauen half ihr.
Einer der Männer berührte José-Maria an der Schulter und zeigte in eine Richtung.
Die Mutter der Mädchen kam angelaufen. Ohne dass sie überhaupt etwas gesehen hatte, schrie sie, dass es ihm ins Herz schnitt.
»Wie heißt sie?«, fragte er. »Hat sie einen Mann?«
»Lydia«, antwortete einer der Männer. »Ihr Mann wurde von den Banditen umgebracht.«
»Sie darf das hier nicht sehen«, sagte José-Maria.
Dann ging er der laufenden Frau entgegen. Er versuchte Lydia aufzuhalten, aber sie riss sich los. Erst als mehrere Männer sie packten, gelang es ihnen, sie festzuhalten.
Aber da war es schon zu spät.
Da hatte sie ihre Töchter schon auf dem Pfad liegen sehen.
Sie hörte auf zu schreien.
Dann stieg aus ihrer Kehle, was wie ein Heulen klang.
José-Maria würde es nie vergessen.
Ihre Klage würde ihn für den Rest seines Lebens begleiten.
Die Tragen waren bereit. Mehr konnte Rut für die Kinder nicht tun. Vorsichtig wurde Maria hochgehoben. Ein schwaches Wimmern, das war alles, was zu hören war. Jemand breitete behutsam eine Capulana über sie und dann wurde sie zum Weg hinaufgetragen, wo ein Laster wartete.
Erst danach hoben sie Sofia auf die andere Trage.
Als sie sie anhoben, löste sich ihr linker Fuß und blieb auf dem Pfad liegen. Rut nahm ihn vorsichtig hoch und legte ihn auf die Trage. José-Maria wandte sich ab und erbrach sich.
Als sie das Krankenhaus in der Stadt erreichten, dachte José-Maria, es sei schon zu spät.
»Sie sind tot«, sagte er.
Schwester Rut schüttelte den Kopf.
»Sie leben«, antwortete sie. »Noch atmen sie.«
»Werden sie es schaffen?«, fragte José-Maria.
»Wir können nur hoffen«, antwortete Rut.
José-Maria nickte. Er dachte an die Mutter der Mädchen,
Lydia, die bei den anderen Frauen geblieben war.
Er fühlte eine Mischung aus Verzweiflung und Zorn, wie er noch nie gefühlt hatte.
Er dachte daran, dass er Pfarrer war. Er glaubte an Gott.
Er glaubte an einen Gott, der die Welt, die Tiere und die Menschen geschaffen hatte, Meer und Sonne, Mond und Sterne. An einen Gott, der gut war.
Wie war dies hier möglich? Zwei zerrissene arme Kinder, die an einem frühen Morgen auf einem Pfad lagen.
Es war, als hätte Rut seine Gedanken gelesen. Sie nahm seine Hand und schüttelte den Kopf.
Sofia und Maria wurden auf zwei andere Tragen gelegt. Das Krankenhaus war arm, das wusste José-Maria. Dort fehlte es an fast allem, in vielen Krankenbetten gab es nicht einmal Laken. Aber die Krankenschwestern und Ärzte waren tüchtig.
Eine der Krankenschwestern hieß Celeste, eine andere Marta. Sie hatten schon viele Menschen gesehen, nachdem Minen explodiert waren. Jetzt sahen sie Sofia und Maria.
»Ich weiß, dass man so nicht denken darf«, sagte Marta. »Aber wäre es nicht besser gewesen, wenn diese Kinder hätten sterben dürfen?«
»Das werden sie wohl«, antwortete Celeste. »Diese Verletzungen können sie nicht überleben.« In dem Augenblick kam ein Arzt mit Namen Raul. Er hatte nicht gehört, was die zwei Krankenschwestern gesagt hatten. Er war jung und er empfand denselben Zorn wie José-Maria, wenn er sah, wie Minen Kinder und Erwachsene zurichteten.
Er untersuchte Sofia und Maria nacheinander. Obwohl Maria weniger verletzt zu sein schien, wusste er sofort, dass es um sie viel schlimmer stand. Die Druckwelle der Explosion hatte innere Verletzungen verursacht. Sie blutete von innen im Gegensatz zu dem anderen Mädchen, das einen Fuß verloren hatte und dem die Beine und der Bauch zerfetzt worden waren.
Die Mädchen wurden weggerollt, damit er anfangen konnte zu operieren.
Er wandte sich an José-Maria, der noch da stand. Rut war schon gegangen, um sich um die Mutter der Mädchen zu kümmern. »Was ist passiert?«, fragte Doktor Raul.
José-Maria breitete die Arme aus. »Sie wussten, dass sie den Pfad nicht verlassen dürfen«, sagte er.
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