Geheimnis des Feuers
ihrer Hacke den Boden lockerte.
Dann würde es Nachmittag und sie würden in die Schule gehen.
Wenn nur die Feuer in ihr aufhören wollten zu brennen.
Sie merkte nicht, dass weiß gekleidete Leute in das Zimmer kamen. Sie sah nicht Doktor Raul an Marias Bett stehen und den Kopf schütteln.
Sie sah nicht, wie sie Maria auf eine Bahre hoben und hinausrollten.
Sie sah nicht, wie Maria mit einem Laken zugedeckt wurde, das sauber und unbenutzt war.
Ein Laken, das Doktor Raul von zu Hause mitgebracht hatte. Er wollte nicht, dass Maria mit zerrissenen und schmutzigen Stofffetzen zugedeckt wurde.
Als Sofia das nächste Mal erwachte, war es schon Tag. Die Sonne schien durch das Fenster. Von draußen konnte sie Autos hören.
Dann entdeckte sie, dass Maria fort war. Ihr Bett war leer. Sie erinnerte sich schwach daran, was in der Nacht geschehen war.
Maria ist nach Hause gegangen, dachte sie. Sie hat mich hier zurückgelassen. Allein. Warum hat sie das getan?
Eine Krankenschwester kam ins Zimmer. »Wo ist Maria?«, fragte Sofia. »Maria ist tot«, sagte die Krankenschwester. Sofia schüttelte den Kopf.
»Sie ist nach Hause gegangen«, sagte Sofia. »Sie ist nicht tot.«
In dem Augenblick kam Doktor Raul. Sofia kannte seinen Namen nicht. Er sah nett aus. Aber sein Gesicht war gezeichnet von Müdigkeit. »Wo ist Maria?«, fragte Sofia.
Doktor Raul kauerte vorsichtig neben ihrem Bett nieder. »Deine Schwester war sehr müde«, sagte er. »Sie war so schwer verletzt, dass sie immer nur schlafen wollte. Das tut sie jetzt. Ihr tut nichts mehr weh. Ich glaube, darüber sollten wir uns freuen. Auch wenn wir traurig sind, dass sie fort ist. Sie hatte so furchtbare Schmerzen, Sofia. Darum ist Maria gestorben.« Sofia sah in seine Augen.
Er strich ihr vorsichtig mit einer Hand über die Stirn. »Deine Mama Lydia ist draußen«, sagte er. »Ich werde sie holen.«
Doktor Raul verließ das Zimmer und schloss die Tür. Draußen auf dem Fußboden saß Lydia, zusammengesunken, zerstört. Neben ihr stand José-Maria. Der Doktor hockte sich vor Lydia hin.
»Du musst jetzt an Sofia denken«, sagte er. »Geh zu ihr hinein. Aber weine nicht, schrei nicht. Denk daran, dass Sofia sehr krank ist.«
Lydia nickte. José-Maria musste sie vom Boden hochziehen. Dann stützte er sie und führte sie in das Zimmer, in dem Sofia lag. Sie sprachen kaum miteinander. José-Maria stand im Hintergrund. Er sah, wie Lydia Sofia streichelte. Und Sofia verfolgte Lydias Gesicht mit den Augen. Dann ging Lydia. Draußen im Korridor wurde sie ohnmächtig.
Zwei Tage später operierten die Ärzte Sofia erneut. Sie nahmen ihr rechtes Bein kurz oberhalb des Knies ab.
Es war nicht zu retten gewesen. Immer noch glaubten sie, dass Sofia ihr anderes Bein behalten könnte, obwohl es auch schwer verletzt war.
Vier Tage später musste Doktor Raul einsehen, dass auch das andere Bein nicht zu retten war. Am nächsten Tag amputierten sie es kurz unterhalb des Knies.
Sofia wusste immer noch nicht, dass sie keine Beine mehr hatte.
In der Nacht nach der zweiten Operation schaukelte sie auf dem unterirdischen Meer. Die Feuer brannten weiter in ihr. Zwei Krankenschwestern kamen in ihr Zimmer. Sie hörte die Schritte, spürte, wie sie das Laken anhoben und ihren Körper berührten.
Dann hörte sie sie miteinander sprechen.
»Es wäre wohl das Beste gewesen, wenn sie auch hätte sterben dürfen wie ihre Schwester«, sagte die eine Stimme.
»Was hat sie für ein Leben zu erwarten?«, antwortete die andere Stimme.
Dann wurde es still im Zimmer. Die Schritte entfernten sich, die Tür schlug zu.
Sofia öffnete die Augen.
Hatten sie von ihr gesprochen? Warum wäre es das Beste gewesen, wenn sie auch gestorben wäre? Warum reichte es nicht, dass Maria gestorben war?
Sie merkte, dass etwas mit ihrem Körper war. Das waren nicht nur die Feuer, die brannten. Vorsichtig strich sie mit der einen Hand über die Brust und den Bauch, über all die Verbände und weiter über das eine Bein. Am Knie war es zu Ende. Ihr Bein war weg.
Sie haben es weggenommen, dachte sie entsetzt. Sie haben mir mein Bein weggenommen.
6.
Noch einmal saß Sofia da und sah ins Feuer. Sie tat es im Traum. Aber alles war so wirklich, dass sie meinte, sogar den Duft von schwarz verbranntem Holz, von Gras und Erde zu riechen.
Dieses Mal suchte sie nicht nach dem Geheimnis des Feuers. Jetzt suchte sie nach Muazenas Gesicht in den Flammen. Sie wollte nach dem Bein fragen, das verschwunden war, dem Bein, das
Weitere Kostenlose Bücher