Geheimnis des Feuers
eigene Verzweiflung. José-Maria saß bis tief in die Nacht hinein mit dem Kruzifix in der Hand da. Dann machte er das Licht aus.
Einige Wochen vergingen. Immer seltener schaukelte Sofia auf der unterirdischen Dünung. Die Schmerzen wurden schwächer. Jetzt hatte sie manchmal Hunger und konnte schon im Bett sitzen, wenn sie aß. Eines Tages, als sie allein im Zimmer war, zog sie das Laken beiseite und sah mit eigenen Augen, dass ihre Beine nicht mehr da waren.
Die Knie waren mit dicken Verbänden umwickelt. Es war etwas Merkwürdiges mit den Beinen, die nicht mehr da waren. Es war, als ob sie trotzdem Gefühl darin hätte, bis hinunter zu den Füßen. Sie rufen nach mir, dachte sie. Sie sind genauso allein wie ich.
Am selben Tag fragte sie Doktor Raul, was mit ihren Beinen passiert sei.
Ihre Frage überraschte ihn. Er hatte aber gelernt, dass es das Beste war, Sofia die Wahrheit zu sagen.
»Deine Beine sind tot«, sagte er. »Sie waren tot, aber du lebst. Wir haben sie verbrannt. Dann haben wir sie in der Erde begraben.«
Sofia dachte lange über das nach, was er gesagt hatte.
»Hoffentlich habt ihr sie neben Maria begraben«, sagte sie.
Doktor Raul nickte langsam.
»Ja«, sagte er. »Wir haben sie neben Maria begraben.«
Am nächsten Tag durfte Sofia zum ersten Mal auf sein. Wie lange sie im Bett gelegen hatte, wusste sie nicht. Sie hoffte, dass viel Zeit vergangen war. Sie dachte, es sei leichter an Maria zu denken, wenn sich die Zeit weit von ihr entfernt hatte. Eine der Krankenschwestern hob sie in einen verrosteten Rollstuhl mit verbogenen Rädern. Dann schob sie Sofia zur Tür hinaus. Der Flur war voller kranker Menschen. Es roch dumpf nach Schweiß und Wunden.
»Du brauchst frische Luft«, sagte die Krankenschwester. Sie hieß Mariza.
Sie kamen hinaus auf das Trottoir vorm Krankenhaus. Verwundert betrachtete Sofia all die Autos, die auf der Straße vorbeifuhren, und die hohen Häuser, all die Menschen, die in verschiedene Richtungen liefen. Mariza stellte den Rollstuhl an einer Hauswand ab. »Hier kannst du ein bisschen gucken«, sagte sie und lächelte. »Ich hole dich später wieder ab.« Sie wickelte eine schmutzige Decke um Sofias Beine. Jetzt kann niemand sehen, dass ich keine Beine habe, dachte Sofia. Dann war sie allein.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie in die Stadt gekommen war. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, wie Maria und sie auf dem Pfad zu den Äckern gelaufen waren.
Plötzlich erkannte sie, dass sie überhaupt nicht wusste, was passiert war. Warum war Maria tot? Warum hatte sie keine Beine mehr? Warum hatte ihr niemand erzählt, was geschehen war?
Waren die Banditen wiedergekommen?
Ihre Gedanken wanderten hin und her, während sie im Rollstuhl vorm Krankenhaus saß. Um sie herum saßen Frauen auf dem Trottoir, ihre verschiedenen Waren um sich ausgebreitet. Einige hatten sich kleine Tische aus Pappkartons gebaut. Sie verkauften Apfelsinen und Äpfel, Zwiebeln und Erbsen, Schokoladenstückchen und Maiskolben. Einige boten auch Bierdosen an. Hin und wieder blieb jemand stehen und kaufte etwas. Die ganze Zeit redeten die Frauen miteinander, stillten ihre Kinder und ordneten ihre Waren.
Plötzlich merkte Sofia, dass jemand sie in ihrer eigenen Sprache ansprach. Es war die Frau, die direkt neben ihr saß. Sie reichte Sofia eine halbe Apfelsine. Sofia schüttelte den Kopf, sie hatte kein Geld um zu bezahlen. Dann begriff sie, dass die Frau ihr die halbe Apfelsine schenken wollte. Sie nahm sie entgegen.
»Was ist mit dir passiert?«, fragte die Frau. Sie war jung und hatte ein strahlendes Lächeln.
»Ich weiß nicht«, antwortete Sofia. »Irgendwas ist mit meinen Beinen passiert und Maria ist gestorben.« »War das deine Mama?« »Meine Schwester.«
»Yo Mammanó, inó«, klagte die Frau. »Der Krieg tötet alle. Wie heißt du?«
»Sofia Alface.«
»Ich heiße Miranda«, sagte die Frau. »Ich will deine Freundin sein.«
Die Apfelsine schmeckte besser als alles andere, was Sofia jemals gegessen hatte. Sie sah die Frau an und musste plötzlich lachen.
Aber das klang fremd.
Es war, als ob sie fast vergessen hätte, wie es ist zu lachen.
In der nächsten Woche fuhr Mariza sie jeden Vormittag und Nachmittag hinaus. Jeden Tag war Miranda dort.
Einige Male geschah es, dass Doktor Raul hinaus auf die Straße kam und eine Zigarette rauchte. Eines Tages gab er Miranda einige Geldscheine.
Da sie Sofia weiterhin Apfelsinen gab, begriff Sofia, dass Doktor Raul sie
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