Geheimnis des italienische Grafen
Fenster frischte die Brise auf, die Blätter des Zitronenbaums raschelten. Thalia ging zum Fenster, um es zu schließen, und schaute in den Garten hinab, zu den pastellfarben gestrichenen Häusern jenseits der Pforte. So schön war die sonnenhelle alte Stadt Santa Lucia – und voller Geheimnisse. Werde ich im kühlen grünen England diese schläfrige Hitze, den strahlend blauen Himmel und die felsigen Hügel vermissen? fragte sich Thalia.
Während die Kirchenglocken läuteten und die Stunde anzeigten, trugen die Dienstboten die Truhen und Koffer nach unten und stapelten sie im Garten neben dem Brunnen. Über das Fensterbrett gebeugt, beobachtete Thalia, wie sich immer mehr Gepäck anhäufte – wie ihr die Zeit in Santa Lucia davonlief. Die Brise wehte ihr das Haar in die Stirn. Ungeduldig wischte sie die Strähnen beiseite – und da sah sie ihn, Marco. Langsam ging er zur Gartenpforte.
Sie hatte gehört, nach Clios Hochzeit sei er abgereist. Aber da war er. Jetzt lehnte er sich an die Pforte und schaute dem geschäftigen Leben und Treiben vor dem Haus zu, das attraktive gebräunte Gesicht völlig ausdruckslos. Auf dem gewellten blauschwarzen Haar schimmerte das Sonnenlicht.
Ohne lange zu überlegen, eilte Thalia aus dem Zimmer, die Treppe hinab und zur Vordertür nach draußen. Sie wich den Lakaien aus, die noch mehr Gepäck in den Garten schleppten. Schließlich blieb sie vor Marco stehen. Nur das niedrige schmiedeeiserne Gatter trennte sie von ihm. Genauso gut hätte es ein Meer sein können.
Marco richtete sich auf und lächelte sie an. Wie wundervoll er aussah mit den hohen, markanten Wangenknochen, der edlen italienischen Nase, den glänzenden schokoladenbraunen Augen … Nur die dunklen Bartstoppeln rings um das Kinn störten seine klassische männliche Schönheit ein wenig. Wie ein griechischer Gott in seinem Tempel, ein römischer Eroberer auf einer antiken Münze, dachte sie. Und wie mein Graf Orlando in seinem dunklen Schloss …
In den letzten Jahren war sie schon vielen attraktiven Männern begegnet – ihren Schwägern, ihren eigenen Verehrern. Aber Marco hatte noch mehr zu bieten als seine gewinnende äußere Erscheinung – eine feurige Leidenschaft, kaum verschleiert von höflicher Galanterie. Eine scharfe Intelligenz. Und Geheimnisse. Viele Geheimnisse, die Thalia ergründen wollte.
Trotz der berühmten Chase-Hartnäckigkeit bezweifelte sie, dass es ihr jemals gelingen würde, seine verborgene Seele zu erforschen. Viel zu geschickt versteckte er sich hinter seinen hervorragenden schauspielerischen Fähigkeiten. Selbst wenn sie zehn Jahre Zeit dafür hätte, niemals könnte sie sein wahres Ich entdecken.
Und ihr blieben keine zehn Jahre, nicht einmal zehn Minuten. Wehmütig erinnerte sie sich an die gemeinsamen Stunden im alten Amphitheater, an Diskussionen, Gelächter – vorgetäuschte Liebe bei den Proben des Theaterstücks. Goldene Stunden, die sie niemals vergessen würde.
Ihn würde sie niemals vergessen.
„Ich dachte, du hättest Santa Lucia verlassen, Marco“, sagte sie leise.
„Und ich dachte, du wärst abgereist, Thalia.“ Wieder schenkte er ihr sein herzzerreißendes Lächeln mit dem Grübchen neben einem Mundwinkel. Ihr Renaissancefürst. Der zufällig ihre Schwester liebte. Entschlossen schaute sie weg und bot ihre eigenen schauspielerischen Fähigkeiten auf – alles, was sie in den letzten aufregenden Wochen erlernt hatte, um ihre wahren Gefühle vor Marco zu verbergen. Wie gut erinnerte sie sich an seine traurige Miene bei Clios Hochzeit – und das verlieh ihr die Kraft, das Lächeln scheinbar sorglos zu erwidern.
„Für eine überstürzte Abreise mussten wir zu viele Sachen packen, wie du siehst“, erwiderte sie und zeigte auf die Truhen und Koffer. „Die Skizzenbücher meiner Schwester Cory, die umfangreichen Notizen meines Vaters über seine Arbeit …“
„Und deine ‚Antigone‘-Kostüme?“
„Ja, die auch.“ Nun wandte sie sich wieder zu ihm. Mit seinen dunklen Augen schien er sie aufmerksam zu mustern. Doch sie las nichts darin, keine Spur jener sonderbaren Freundschaft, die auf der alten Bühne entstanden war. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Jetzt gab es nur noch diesen einzigen, kurzen gemeinsamen Moment.
„Tut mir leid, dass wir das Schauspiel des Sophokles nicht aufführen konnten, Thalia.“
„Mir auch. Dafür haben wir genug andere dramatische Szenen erlebt, nicht wahr?“
Lachend nickte er. Und dieses wundervolle heitere Gelächter
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