Geheimnis einer Wuestennacht
verloren.â Beim Reden hatte sie instinktiv eine Hand auf seine Stirn gelegt, wie sie es die ganzen letzten Tage getan hatte.
Tahir spürte, wie sein Herz heftig zu schlagen begann. Es fühlte sich kühl, vertraut und verdammt gut an! Als sie die Hand zurückzog, hätte er fast laut protestiert.
âIhr kleiner Freund hat sich ziemliche Sorgen um Sie gemacht.â
âFreund? Welcher Freund?â, fuhr er misstrauisch auf und schaute sich suchend im Zelt um. Erst jetzt fiel ihm das kühle, sachliche Interieur auf. Die Stapel sorgsam zusammengefalteter Kleidung in einer Ecke, in einer anderen ein aufgeschlagenes Buch, mit dessen Blättern der sanfte Wüstenwind spielte, der, dank der festgezurrten Planen im Eingang, zu ihnen hereinwehte.
âErinnern Sie sich nicht?â
âNein.â Gerade noch rechtzeitig ermahnte sich Tahir, aufs Kopfschütteln zu verzichten. âIch erinnere mich an gar nichts.â Und das stimmte leider.
Die fremde Schönheit schien das jedenfalls nicht zu beunruhigen. âSchon in Ordnungâ, sagte sie mit einem Lächeln, das ihn traf wie ein warmer Sonnenstrahl. âSie haben eine ziemlich hässliche Beule am Hinterkopf, die wahrscheinlich die Ursache dafür ist. Aber mit der Zeit wird die Erinnerung sicher zurückkehren.â
âHelfen Sie mir â¦â, bat er widerstrebend und versuchte, seiner aufsteigenden Unruhe Herr zu werden. Er sah ein Casino vor seinem inneren Auge. Einen Haufen Jetons ⦠gierige Frauenhände, die sich auf ihn und seinen Gewinn legten. Dann erinnerte er sich plötzlich an eine Luxusjacht in einem überfüllten Hafen ⦠an eine Party in einem Penthouse und an ein geschäftliches Meeting in einem nüchternen Konferenzsaal. Aber die dazugehörigen Gesichter blieben verschwommen, die Details unklar. âWas für ein kleiner Freund?â
Die Frau ⦠Annalisa, erinnerte sich Tahir, lächelte erneut. Und wieder war es so, als gehe im Zelt die Sonne auf.
âSie haben eine kleine Ziege getragen.â
âEine Ziege?â Was war das denn für ein Unsinn?
âJa.â Jetzt war ihr Lächeln eindeutig ein breites Grinsen. Die dunklen Augen tanzten vergnügt, als sie den Kopf auf die Seite legte und ihm zuzwinkerte. âEin sehr junges Zicklein. Offensichtlich ist es ein Freund von Ihnen, denn Sie zeigten sich trotz Ihres eigenen kritischen Zustands sehr besorgt um das Tier. Inzwischen ist es ebenso über den Berg wie Sie, würde ich sagenâ, stellte sie zufrieden fest. âMomentan hält es ein Nickerchen im Schatten des Zeltes.â
Eine Ziege? Sein Gedächtnis war leer ⦠oder blockiert. Nicht der leiseste Hinweis! âNoch etwas in der Art?â, fragte er zurückhaltend.
Annalisa zuckte die Schultern, aber in ihren Augen flackerte etwas auf, das ihn alarmierte. Was war es? Kummer? Furcht?
âNichts weiterâ, behauptete sie. âVielleicht können Sie mich ja zur Abwechslung mal aufklären. Zum Beispiel darüber, wer Sie sind, wo Sie herkommen und wo Sie hinwollen.â
âMein Name ist Tahir â¦â, murmelte er tonlos.
Annalisa nickte aufmunternd. âJa, und weiter?â
Tahir spürte, wie sich sein Magen hob. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Ein Kaleidoskop wirrer Farben und Formen versperrte ihm sekundenlang den Blick auf sein Umfeld, dann schien alles in unerreichbare Ferne zurückzuweichen.
âIch befürchte, mehr kann ich Ihnen nicht über mich sagenâ, brachte er heiser hervor und zwang ein Lächeln auf seine Lippen, das sich ganz fremd anfühlte. âIch befürchte, ich habe mein Gedächtnis verloren â¦â
3. KAPITEL
Für einen Mann, der sich nur noch an seinen Vornamen erinnerte, reagierte Tahir überraschend cool.
Annalisa hatte den Schock in seinen Augen gesehen, aber auch, wie er ihn nur Sekundenbruchteile später hinter einer gleichmütigen Maske verbarg. HeiÃes Mitleid und tiefe Sympathie flammten in ihr auf, doch sie kämpfte beides gleich nieder, davon überzeugt, er würde es ohnehin ablehnen.
Obwohl sie Qusay noch nie verlassen hatte, war Annalisa mit ihren fünfundzwanzig Jahren kein bisschen weltfremd. Als Assistentin ihres Vaters musste sie ständig mit ansehen, wie stark das Leben von Menschen durch unvorhersehbare Unfälle oder angeborene Behinderungen beeinflusst und geprägt werden konnte. Und wie
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