Geheimnis Um Mitternacht
Lord Wyngate hinterher. „Du solltest mir Respekt erweisen."
Abrupt drehte Irene sich um. „Das werde ich, wenn du es verdienst", sagte sie hart.
„Du bist wirklich die schlechteste Tochter, die ein Vater nur haben kann", erwiderte er, und seine Augen wurden schmal. „Kein Mann wird dich heiraten, so wie du dich aufspielst. Und was wirst du dann machen, hm?"
„Froh und glücklich sein", kam Irenes knappe Antwort. „Nach allem, was ich hier erlebe, muss ein Leben ohne Ehemann wirklich angenehm sein. Ich werde niemals heiraten."
Erfreut darüber, dass ihre Worte ihn wenigstens für den Moment mundtot gemacht hatten, drehte Irene sich um und stolzierte die Treppe hinauf.
London, 1816
Irene unterdrückte ein Seufzen, während ihre Schwägerin ausführlich das Kleid beschrieb, das sie gestern gekauft hatte. Nicht, dass Irene nicht gerne über Mode redete. Im Gegenteil, Gespräche über Stil, Earben und Accessoires machten ihr sogar mehr Spaß, als sie selbst zugeben wollte. Vielmehr langweilte es Irene, Maura beim Reden über deren Garderobe zuzuhören. Denn alles, was Maura sagte, drehte sich immer mehr um sie selbst, ihren eigenen Geschmack, Witz und ihre Schönheit als um irgendetwas anderes.
Maura war wie eine Sonne, um die alle Personen und jedes Interesse sich drehte, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Sie war sehr selbstbezogen, was Irene nicht so viel ausgemacht hätte, wäre sie nicht obendrein langweilig und wenig originell gewesen.
Unauffällig ließ Irene ihren Blick über die Gesichter der anderen Frauen wandern und stellte fest, dass keine der drei Besucherinnen so gleichgültig oder gelangweilt aussah, wie sie selbst sich fühlte. Sie fragte sich, ob ihr eigener Gesichtsausdruck auch so wenig von ihren wahren Gefühlen widerspiegelte. Es war schwer zu sagen, da alle Damen guter Herkunft schon früh lernten, höfliches Interesse an anderer Leute Konversation zu zeigen, egal, wie stumpfsinnig sie war.
Irenes Mutter, Lady Claire, war eine der Frauen, die Maura mit einem freundlichen und interessierten Gesichtsausdruck zuhörten. Sie würde es als sehr schlechten Stil empfunden haben, sich irgendeinen anderen Ausdruck zu erlauben, aber Irene wusste, dass noch mehr im Spiel war. Ihre Mutter hatte Angst, Missfallen oder auch nur Desinteresse an den Äußerungen ihrer Schwiegertochter zu zeigen. Seit Humphrey Maura im letzten Jahr geheiratet hatte, verhielt sich Lady Claire äußerst vorsichtig, denn sie wusste, dass Maura nun die wahre Macht im Haus war und ihr das Leben und das ihrer Tochter zur Hölle machen konnte.
Irene hingegen war der Meinung, es sei ohnehin die Hölle, jeder Laune Mauras nachgeben zu müssen, sodass es mehr als unnötig war, sich ständig darum zu bemühen, nicht ihre Missbilligung auf sich zu ziehen. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass ihr Bruder so schwach war, seine Mutter und Schwester aus dem Haus zu werfen, sollte Maura dies fordern. Doch ihr war trotzdem bewusst, dass es durchaus in seiner Macht stand, so etwas zu tun, genauso wie es in Mauras Natur lag, tatsächlich so eine selbstsüchtige Forderung zu stellen. Und es stimmte leider, dass sie und ihre Mutter nach dem Tod von Lord Wyngate praktisch mittellos und vollkommen von der Großzügigkeit ihres Bruders abhängig waren.
Lord Wyngate war vor drei Jahren nach einer besonders trinkfreudigen Periode bei einem Sturz vom Pferd ums Leben gekommen. Es hatte Irene überrascht, wie traurig sie gewesen war. Nach all den Jahren des Kampfes mit diesem Mann und der Verachtung, die sie für ihn empfand, hatte es scheinbar doch noch einen kleinen Rest von Liebe in ihr gegeben, den selbst sein abscheuliches Verhalten nicht vollkommen hatte vernichten können. Dennoch konnte man nicht abstreiten, dass sein Ableben bei all denen, die mit ihm zu tun hatten, ein großes Gefühl der Erleichterung hinterlassen hatte.
Endlich lauerten keine Geldeintreiber mehr vor ihrer Tür. Denn Humphrey hatte sich mit ihren Gläubigern zusammengesetzt und einen Plan ausgearbeitet, die Schulden ihres Vaters komplett abzubezahlen. Auch kamen nicht mehr plötzlich suspekte Gestalten auf der Suche nach Lord Wyngate vorbei. Sie mussten nicht länger befürchten, dass er mit irgendeinem Skandal Schande über die Familie bringen würde. Am besten war natürlich, dass seine Anwesenheit nicht mehr wie eine dunkle Wolke über dem Haus hing, die jeden zwang, alles nur Menschenmögliche zu tun, um ihm nicht zu begegnen oder einen seiner
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