Geheimnisse der Lebenskraft Chi
aufgefächerter Fluss über meine Schädeldecke zu strömen.Am oberen Rand der Stirn vereinigen sich die Chi-Ströme wieder zu einem engen Kanal, der abwärts zum oberen Dantian führt, der Stelle zwischen den Augenbrauen, die wir als drittes Auge bezeichnen. Da macht das Chi halt, einen stetigen Rhythmus
pochend. Endlich! Das Chi ist der von den Yogis der alten Zeit beschriebenen Route gefolgt, von der im Westen zumeist angenommen wurde, es handle sich um eine Metapher der spirituellen Wandlung, um etwas, das man allenfalls visualisiert, aber nicht mit den Sinnen erfährt. Im Buddhismus wird das dritte Auge als das Gebiet des weißen Lockenhaars bezeichnet. Der Legende zufolge ging beim Buddha nach seiner Erleuchtung ein weißes Licht von der Stelle zwischen seinen Augenbrauen aus. Ich bin noch weit von der Erleuchtung entfernt, mein drittes Auge hat sich noch nicht geöffnet. Das unsichtbare Augenlid zuckt noch nicht einmal. Doch kein Zweifel, das Chi hat hier sein Zelt aufgeschlagen und seinen Platz abgesteckt.
In einer weiteren Sitzung nimmt das Chi wieder seinen üblichen Lauf, vom Bauch aus die ganze Runde bis zum dritten Auge. Als ich mich auf das Pulsieren im dritten Auge konzentriere, geschieht etwas ganz Erstaunliches. Das Chi gleitet die Nase entlang abwärts, kitzelt an den Öffnungen und stürzt dann über Kinn und Hals weiter hinunter, bis es in der Halsgrube zum Stillstand kommt. Es ist eine völlig neuartige Empfindung, die mich begeistert, so als würde mir jemand mit der leicht elektrisierenden weichen Spitze einer Feder über Gesicht und Hals fahren. Ich stürme ins Sprechzimmer, um Dr. Chow zu berichten.
»Dieser Pfad sehr alt und sehr wichtig«, sagt er. Das macht mich froh, es baut mich auf.
»Wohin führt er?«, frage ich. Er sagt kein Wort, sein Gesicht verrät nichts. Mein Blick schweift zu einer kleinen männlichen Figur aus Gummi, die auf einem Schrank steht. Sie ist über und über mit farbigen Linien bedeckt, denen die Verläufe der
Meridiane, der Energieleitbahnen in der Akupunktur, zu entnehmen sind. Dr. Chow springt auf und hält die Hände vor den Gummimann.
»Nein, muss selber ausfinden.«
Das geschieht gleich in der nächsten Sitzung.Vom Dantian aus umrundet das Chi meinen Körper und kommt zwischen den Schlüsselbeinen zum Stillstand. Dann schießt es wie in einem plötzlichen Ausbruch die Brust hinunter zum Dan-zhong-Punkt, wo es nur einen Augenblick verweilt, bevor es in den Dantian zurückfließt. Und weiter führt der Weg, schlängelt sich abwärts und unter meinen Körper zum Kreuzbein, wo der Aufstieg zu den Schulterblättern beginnt. Eine halbe Stunde lang umrundet das Chi sprudelnd meinen Körper, ein Strom von sich kräuselnder Energie. Eine halbe Stunde lang ist mein Körper ein Priestertum des Einen, der innen wirkenden höheren Macht geweiht. Ich habe eine Zeitreise gemacht, zurück zu den ersten Dingen, zu diesem längst vergessenen uranfänglichen Energiesystem. Etwas sehr Altes und Ehrwürdiges kreist da in meinem Körper, das Elixier der Unsterblichkeit, Ponce de Leóns Jungbrunnen.
Beim Notieren meiner Eindrücke im Wartezimmer fällt mir etwas ein, was Thoreau einmal gesagt hat: Nicht für die Suche nach der Nordwestpassage sollten wir unsere Kräfte aufwenden, sondern lieber die inneren Kontinente entdecken. Er meinte natürlich die Kontinente der Seele, aber was ist mit den inneren Kontinenten des Körpers? Und was mit den über diese Kontinente verlaufenden Strömen der Energie?
Dr. Chow liefert mir die alte Terminologie für die Flusslandschaft, in der sich diese Leben spendende Energie bewegt. An der Vorderseite meines Körpers fließt das Chi im sogenannten
Dienergefäß abwärts, einem Kanal, der Ren mei oder einfach Ren genannt wird, und den Rücken hinauf führt das Lenkergefäß Du mei oder Du. Diese Bahn, fügt Dr. Chow hinzu, bezeichnet den grundlegenden Energiekreislauf im Chi Gong, der auch mikrokosmischer Zyklus oder kleine Himmelsbahn genannt wird. Ich finde kleine Himmelsbahn am schönsten. Wenn das Chi in meinem Körper kreist, ist es wie eine alles erfassende Flut der Verzückung, und ich bin im Himmel.
DIE GROSSE HIMMELSBAHN
Als ich vier Jahre alt war, wusste ich mit der keine Argumente zulassenden Logik eines Kindes, dass es einfach toll sein musste, mit dem Kopf voran durch die Scheibe unserer Eingangstür zu brechen. Immer wenn jemand das Haus verließ, rannte ich auf den Gang, streckte mich auf dem Fliesenboden aus und lauschte dem
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