Geheimnisse der Lebenskraft Chi
asthmatischen Keuchen der Tür. Es hatte etwas von dem pfeifenden Atem, der mich fast alle Tage begleitet.
Klack-klack-klack - meine ältere Schwester nähert sich in ihren schwarzen Halbschuhen. Schon hat sie die Hand am Türgriff. Die Tür geht auf. Ich springe auf und gehe in Starthaltung. Meine Schwester ist draußen, und ich renne - barfuß - über die zwanzig großen Fliesen. Als die Tür eben seufzend zuschnappt, stürze ich mich durch die Scheibe und rolle über den Betonboden des Windfangs. Meine Mutter hört in der Küche das Klirren und kommt ebenfalls im Laufschritt, die Hände an der grünen Schürze abstreifend, zur Tür. Sie findet mich unverletzt und strahlend vor, ich schüttle mir Scherben aus dem Haar wie Superboy. Es sei das Tollste gewesen, sage ich zu ihr, was ich je erlebt hatte. Ob ich das noch mal machen dürfe.
In der Chi-Gong-Praxis habe ich denselben Wonneschauer wie beim Sprung durch die Scheibe jedes Mal wieder, wenn der
kleine Kreislauf in meinem Körper aktiv wird. Dr. Chow sagt, er sei sehr angetan von meinen Fortschritten. Er steht in einem Lichtkegel, während ich im Halbdunkel auf der Liege ausgestreckt bin. Ich frage, ob es in China Tradition sei, dass der Meister seinem Schüler so viel Chi gibt. Nein, sagt er, die Meister in China geben so gut wie nie etwas von ihrem Chi ab. Sie haben sich abgemüht, um selbst an Chi zu kommen, und dann möchten sie es natürlich für sich behalten.
Wieder muss ich die Augen schließen, und er entfernt sich ein paar Schritte. Ich höre das Rascheln seiner Ärmel und sehe innerlich, wie er schwungvolle Arabesken in die Luft malt. Es vergeht ein Augenblick, dann setzt im Bauch ein Kribbeln ein, aber ich sage nichts. Leise schließt sich die Tür, und für den Rest der Sitzung wandert das Chi wieder die kleine Himmelsbahn ab, nur tappst es diesmal auch ein wenig auf meinen Wangen und tanzt die Ränder meiner Ohren entlang.
Plötzlich kracht es auf dem Gang, wie Glas in einem zu Boden stürzenden Karton, und ein Ruck fährt durch meinen Körper. Gleich darauf ist Dr. Chow im Zimmer und streicht mit den Händen in einigen Zentimetern Entfernung über meinen Körper, wie um ein Laken zu glätten.
»Was war los?«, frage ich.
»Krach im Gang«, sagt er. »Krach verklemmt Chi.«
»Und Sie bringen das jetzt wieder in Ordnung, das Chi?«
»Ich bringe. Und gebe mehr.«
Er verlässt den Raum wieder, und gleich fühle ich das Chi in meinem Dantian pochen. Was ist erstaunlicher, diese Empfindung oder Dr. Chows Fähigkeiten? Mir fallen die indischen Gurus ein, die ihren Lieblingsschülern Shaktipat zukommen lassen, kleine Energieschübe. Für die Schüler ist das ein Sakrament,
und der Guru ist Gott, und dieser Dr. Chow - an wie viele Schüler und Patienten mag er täglich Chi austeilen, ohne sich als religiöse Leitfigur aufzuspielen? Woher mag er diese gewaltigen Energiereserven haben?
In weiteren Sitzungen tritt das Chi seinen Pfad des kleinen Kreislaufs weiter aus, bis ich eines Tages plötzlich ein Brennen in der Mitte der Handfläche spüre, dann beginnt das linke Handgelenk zu schmerzen, das ich mir als Kind einmal gebrochen habe. Bald darauf scharfe, stechende Schmerzen im oftmals vertretenen und nie ganz ausgeheilten Fußgelenk. Und dann fühlt sich der Schädel plötzlich an, als wollte er implodieren. Das ist alles andere als Himmel, nicht einmal mehr ein Schweben auf Wolken. Ich bin wieder auf der Erde, vom Chi belagert und sehr irdischen Widerwärtigkeiten ausgesetzt.
Im Sprechzimmer erfahre ich von Dr. Chow, das Chi heile alte Verletzungen und beseitige Energieblockaden. Ich dürfe damit rechnen, dass es eine Weile so weitergehen werde. Als ich frage, wie lange, sieht er mich groß an und sagt: »Kommt auf Körper an.«
Ich lese seit einiger Zeit eine Biografie Krishnamurtis, der vielleicht der größte Revolutionär unter den religiösen Denkern des zwanzigsten Jahrhunderts war. Er bekundete den Glauben, dass eine intelligente Energie seinen Körper geläutert habe. »Der Prozess«, wie er es nannte, zog sich bei ihm über Jahre hin. Es kann natürlich bei ihm ein ganz anderer Prozess gewesen sein als bei mir. Jedenfalls hoffe ich das.
Über Wochen sehe ich meinem Körper mit fasziniertem Grauen bei seinem immer tiefer schürfenden Großreinemachen zu. Irgendwann hört der Schmerz während einer Sitzung urplötzlich auf, und genauso abrupt breitet sich das Chi
wieder aus - wie ein Lauffeuer. Nachdem es gut die Hälfte des kleinen
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