Geheimnisse der Lebenskraft Chi
dass ein Mensch einem anderen Lebenskraft absaugen kann, ist mir nicht ganz fremd. Ich schreibe nämlich seit ein paar Wochen für eine Fernsehserie mit dem Titel Dracula , bei der es in jeder Episode darum geht, dass die jugendlichen Helden alles daransetzen müssen, um die Vampire am Raub menschlicher Lebenskraft zu hindern. In der wirklichen Welt, überlege ich, könnte es ja energiearme Menschen geben, die unwissentlich zu Energievampiren werden und anderen ringsum die Lebenskraft absaugen. Und vielleicht geben andere, die überschüssige Lebenskraft besitzen, unwissentlich etwas davon ab. Da liege ich also auf diesem Untersuchungstisch und wundere mich darüber, dass
vielleicht ausgerechnet die Beschäftigung mit dem Dracula-Mythos zur Klärung eines der Rätsel der Chi-Übertragung beiträgt.
Meine Grübelei findet ein abruptes Ende, als Dr. Chow ins Zimmer fegt. Ich stelle mich auf die Chi-Übertragung ein und schließe die Augen, und gleich darauf höre ich seine Arme wild die Luft durchschneiden, wobei er immer wieder scharf ausatmet. Dann schnappt die Tür hinter ihm ein, und ich höre, wie seine Schritte sich auf dem Gang entfernen.
Ich warte auf das vertraute Klopfen auf dem Brustbein. Es kommt nicht. Panik. Fluchtgedanken stieben mir durch den Kopf. Vielleicht hat er diesmal gar kein Chi geworfen. Vielleicht wird hier getestet, ob Peter wirklich Chi fühlt oder es sich bloß einredet. Oder hat er womöglich - hat er vielleicht sein ganzes Chi wieder abgezogen wie bei dem anderen vom rechten Weg abgekommenen Schüler? Das war’s dann wohl … Nach fünfzehn Minuten immer noch keinerlei Empfindung. Ich öffne die Augen, blicke an die dunkle Zimmerdecke. Dann stimmt es also, unwissentlich habe ich sein Vertrauen missbraucht, sein Chi missbraucht. Nach zwanzig Minuten setzt ein Klopfen im Brustbein ein. Hoffnung. Aber es bleibt ein ganz schwaches Klopfen, und bis zum Ende der Sitzung folgt keine Empfindung in meinem Dantian.
Auf der Couch im Wartezimmer schreibe ich die wenigen Sätze, die zu schreiben sind. Offensichtlich milder gestimmt, nimmt mir Dr. Chow das Blatt aus der Hand, und als ich den Kopf hebe, begegnet mir Freundlichkeit in seinem Blick.
»Nicht zu lange aufbleiben, nicht zu viel Sport, nicht zu viel Sorgen machen. So verlieren Chi.« Dann gibt er mir noch den Rat, vorsichtshalber jeglichen Körperkontakt zu meiden.
»Handschlag auch nicht?«, frage ich. »Die Leute hier geben sich gern die Hand.«
»Handschlag«, lacht er. »Was kann man machen?« Dann ist das wohl ein verzeihlicher Chi-Gebrauch, sage ich mir.
Chi-Alarm, als ich aus der Praxistür trete und eine mit zwei großen Paketen beladene Frau mich auf dem Gehweg anrempelt, mir Chi entrempelt. Chi-Alarm beim Mittagessen, als mich ein Schriftstellerfreund mit der erdrückenden Umarmung eines heimkehrenden Seemanns begrüßt - wieder ein Haufen Chi beim Teufel. Chi-Alarm, als eine Freundin sich über meinen Tisch beugt und mir ein Bussi auf die Wange drückt. Ich zucke unwillkürlich zurück, und sie lacht in dem Glauben, die Überraschung sei ihr gelungen. So kann man es auch nennen. Ich bin der Knabe in der Chi-Gong-Blase. Du kannst mich anlächeln oder mit mir reden, wenn du möchtest, aber lass deine Finger von meinem Chi.
Kannst du dein Chi sich bilden lassen, bis es geschmeidig wie das eines Neugeborenen ist?
Tao Te King
DIE NATUR DES CHI
Ich habe eine Frage. »Woher weiß das Chi, wohin es gehen soll?«
Mit einem abgründigen Lächeln antwortet Dr. Chow: »Chi weiß.«
Ich händige ihm meine Notizen zur zehnten Chi-Gong-Sitzung aus. Da ist verzeichnet, wie die pulsierende Energie eine Linie von meinem Bauch bis zum Genitalbereich gezogen hat, um dann auf die Rückseite zu wechseln und bis in die Lendengegend aufzusteigen.
»Aber woher weiß es das? Schicken Sie das Chi an bestimmte Stellen?«
»Ich bin Arzt, ich weiß, welcher Chi-Gong-Punkt Energie nötig. Chi geht, wohin ich werfe. Danach geht Chi, wo es will.« Er lässt die Hand flattern, um das Vagabundendasein dieses geheimnisvollen Chi anzudeuten. Chi an eine bestimmte Stelle des Körpers zu schicken, das verstehe ich, aber ich weiß immer noch nicht, wie das Chi anschließend weiß, wohin es geht. Ich frage Dr. Chow, ob der Körper das Chi entlang bestimmter Meridiane leitet. »Chi weiß selbst, wohin gehen«, lautet seine Antwort.
»Dann ist es keine Form von Körperweisheit?«
»Das hier Chi-Weisheit«, sagt er.
»Nur, woher weiß Chi, wohin es gehen
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