Geheimnisse der Lebenskraft Chi
Kreislaufs bewältigt hat, schwärmt es auf der Höhe der Schulterblätter aus und strömt die Arme hinunter in die Hände, bis die Fingerspitzen kribbeln. Den Rückweg nimmt es gleich darauf durch das Innere meiner Arme bis zur Halsgrube zwischen den Schlüsselbeinen und steigt von dort aus in meinen Dantian ab, wo es pulsiert und pulsiert - und unvermittelt als gewaltige Kaskade außen an den Beinen entlang bis zu den Sohlen rauscht. Dort macht es augenblicklich kehrt und schießt im Inneren der Beine wieder nach oben.Wie Kleinstlebewesen vermehrt es sich ins Unermessliche und schleicht sich in jeden letzten Winkel des Körpers ein, bis jede einzelne Zelle von der neuen Energie zu beben scheint. Ich folge dem Chi auf seinem Weg, der immer weiter nach innen führt, wo es zuletzt mit etwas Wildem und Zeitlosem verschmilzt, das außerhalb alles mir Bekanntem liegt. Früher, als mir lieb ist, holt mich ein leises Klopfen an der Tür in die Dunkelheit des Zimmers zurück. Ich öffne die Augen und blinzle in den Streifen gelben Lichts, der die Tür einfasst. Im Sprechzimmer gratuliert mir Dr. Chow zur Entdeckung des großen Kreislaufs, der großen Himmelsbahn. Seinen Erläuterungen entnehme ich, dass die Akupunkturpunkte in der Fußmitte Yong quan oder sprudelnde Quelle genannt werden, und die Punkte in der Mitte der Handflächen heißen Lao gong.Weiterhin gibt es acht außerordentliche oder Sonder-Gefäße im Körper, die als Energiespeicher für die zwölf Meridiane fungieren. Die Aktivierung des großen Kreislaufs bedeutet, dass diese Speicher gefüllt sind und das Chi frei im Körper fließen kann.
Ich frage ihn, wie lange man allein und ohne Chi-Übertragungen für den kleinen Kreislauf brauchen würde. In China, erzählt Dr. Chow mir, studiert man Chi Gong traditionell bei einem Lehrer und benötigt für den ersten kleinen Erfolg, das heißt für den kleinen Kreislauf, in der Regel drei Jahre. Für den großen Erfolg, den großen Kreislauf, kann man neun Jahre rechnen, das aber nur, wenn der Körper auch wirklich für den großen Kreislauf geeignet ist. Einer plötzlichen Eingebung folgend, frage ich, ob er den kleinen Kreislauf schon in jungen Jahren realisiert habe. Er nickt mit einem Leuchten in den Augen, sagt aber nichts weiter dazu.
»Machen alle in diesem dreimonatigen Kurs die gleichen Erfahrungen?«
»Die meisten gleich«, sagt er. »Aber Chi geht immer ein bisschen anders bei jedem.«
In seltenen Fällen, ergänzt er, kann es auch sein, dass das Chi den kleinen Kreislauf in der Gegenrichtung durchläuft, an der Vorderseite des Körpers hinauf und dann an der Rückseite abwärts. Niemand weiß, woran das liegt. In den meisten Fällen, erfahre ich weiter, fließt das Chi leichter in die Arme als in die Beine. Man erkennt es daran, dass alle heilerisch Tätigen Chi in die Arme leiten, obwohl sie weder den kleinen noch den großen Kreislauf vollendet haben.
Ich frage ihn, ob er auch Schüler habe, die nicht viel erreichten. Er überlegt kurz und sagt dann, bei einigen wenigen Schülern sei es so, dass sie überschüssige Energie nicht speicherten, sondern in ihre Arbeit steckten - zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf. In China, sagt Dr. Chow, würden Geschäftsleute gar nicht erst zum Chi-Gong-Studium zugelassen, weil es in einem stressbelasteten Leben sehr schwierig ist, Chi anzusammeln.
Während er spricht, fühle ich Chi um meinen Dantian strömen, obwohl ich ihn kein Chi habe »werfen« sehen, wie er es nennt. Bilde ich mir das ein? Oder wärme ich mich an den Kalorien, die sein Körper abgibt? Dazu würde ich ihn gern noch befragen, aber seine Augen bewegen sich in Richtung Tür, und sein Gesicht bekommt etwas Entrücktes. Das Gespräch ist zu Ende.
Es war die letzte Sitzung, und Dr. Chow ergreift meinen Arm, als er mich zur Praxistür geleitet. Der Rat, den er mir mit auf den Weg gibt, lautet, ich solle jeden Abend vor dem Schlafengehen und jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen üben. Üben heißt, dass ich mich entspanne und das Chi fließen lasse, wohin es will. Ich bedanke mich für alles und ergreife seine Hand zum Abschied. Sie ist überraschend kühl, als würde er ihr nur gerade so viel Blut zugestehen, wie zum Bewegen der Finger nötig ist.
Am nächsten Morgen liege ich nach dem Aufwachen eine Stunde im Bett, bevor ich aufstehe. Pures Entzücken, als das Chi ausschwärmt - ins Gesicht, in die Arme, die Beine. Ich überlege, dass dieses Betrachten des Chi etwas Ehrfurcht einflößendes
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