Geheimnisse der Lebenskraft Chi
gehe einstweilen von Anfang dreißig aus.
»Dieser Schriftsteller hier«, sagt Jerry mit einer Kinnbewegung in meine Richtung, »er möchte einen Artikel über Sie schreiben. Aber das ist nicht der wahre Grund, weshalb er hier ist. Er wird Ihr Schützling sein, Dr. Chow, und Sie sein Lehrer.« Das wird jetzt ein wenig peinlich. Ich spüre, dass ich rot anlaufe, und blicke zu Dr. Chow hin, um festzustellen, wie diese abenteuerliche Prognose bei ihm ankommt. Mit dem Brettgesicht eines Mandarins sieht er Jerry an und wendet sich dann langsam mir zu.
»Sorry«, sagt er entschuldigend, aber bestimmt. »Zu viel Arbeit, um reden. Nur Zeit für Patient.« Dann wendet er sich ab - Kopf, Rumpf, Füße, alles eine einzige Bewegung - und gleitet wie ein Tänzer zur Tür.
»Wann kann ich Sie sprechen?«, rufe ich ihm nach. »Wegen des Artikels.«
»Jerry antwort alle Fragen«, gibt er über die Schulter zurück.
Jugend ist von schwankender Begeisterungsfähigkeit. Zwei Monate nach diesem Besuch habe ich meinen Wunsch, über einen modernen Magier zu schreiben, völlig vergessen. Stattdessen habe ich es mit der ganzen Gerissenheit der Mittellosen irgendwie geschafft, das Geld für einen Flug nach Indien zusammenzukratzen,
wo ich eine Freundin besuchen möchte. Wegen »Visa-Unregelmäßigkeiten« (ich habe schlichtweg keins) bin ich in Bombay unter Flughafenarrest gestellt worden. Während der nächsten fünf Tage reicht meine Bewegungsfreiheit deshalb nicht über den kleinen Warteraum hinaus. Solch ein Arrest ist natürlich nicht dasselbe wie Knast; in Bombay freilich kommt diese Unterscheidung eher einer Spitzfindigkeit gleich. Zwei Jahre später werde ich Jerry den Wahrsager unter ganz anderen Umständen wiedersehen, doch ich will nicht vorgreifen.
Energie ist immerwährendes Entzücken.
William Blake
DIE PRAXIS
Wieder aus Indien zurück, mein Bankkonto bis zum letzten Dollar leergeräumt, bekomme ich das Angebot, ein Drehbuch zu schreiben, und das ist wahnsinnig spannend. Drehbuchschreiben hatte während meines Studiums auf dem Stundenplan gestanden, aber das ist jetzt das erste Mal, dass mich jemand dafür bezahlen möchte. Trotz meiner Hochstimmung schreibe ich nur anfallsweise. Während der letzten Tage in Indien habe ich mir einen Virus eingefangen und bin ihn noch nicht wieder losgeworden. In dieser Zeit, halb Arbeits-, halb Genesungsphase, ziehe ich zusammen mit meinem Bruder in ein Haus ein, und da fällt mir beim Auspacken einiger Kisten das Papier mit der Adresse von Dr. Chows neuer Praxis in die Hände.
Die »Canada Chi Kung Health Clinic« liegt in einer zweigeschossigen Häuserreihe, in die sich überwiegend Discountläden und Kettenrestaurants eingemietet haben. Von einem Frisör und einem Imbiss flankiert, beide wie aus den Fünfzigern übrig geblieben, wirkt die Praxis wie ein Fremdkörper aus einer anderen Kultur, die leuchtend roten Lettern des Praxisschilds wie ein Stück Zukunft. Die breiten Fenster sind mit weißen Stores verhängt, durch die man das Wartezimmer undeutlich
erkennt, rechtwinklig zur Straße die gläserne Eingangstür. Gegenüber ist ein körperlanger Spiegel in die Wand des Nebenhauses eingelassen, der vielleicht einmal zu einer Schneiderwerkstatt gehört hat. Ich werfe einen Blick auf mein Spiegelbild - langes Gesicht, das Blondhaar lustlos hängend, die blauen Augen glanzlos. Jetzt bin ich wohl doch Patient bei Dr. Chow.
Die Glastür schlägt beim Eintreten mit lautem Knall hinter mir zu, aber es ist niemand da, der es hören könnte. Meine Blicke wandern im leeren Wartezimmer umher, das sich wie eine Ode an die Siebziger gibt - Stühle mit blauen Stoffpolstern, ein Zweisitzer aus kanariengelbem Vinyl, eine Kunstledercouch im Farbton Milchschokolade. Die Wand zwischen dem Wartezimmer und Dr. Chows Sprechzimmer hat zwei längliche Fenster, ebenfalls mit Tüll verhängt. Ich riskiere einen Blick, das Sprechzimmer ist leer. Ich gehe hinüber zum Aufnahmefenster - niemand da. Dann zur Sprossentür zum Gang, an dem die Untersuchungs- und Behandlungsräume liegen. Durch eine Scheibe sehe ich, wie Dr. Chow und sein Bruder gerade aus einem Zimmer kommen und in ein anderes verschwinden. Keiner der beiden wirft einen Blick in meine Richtung, aber durch das Aufnahmefenster dringt jetzt süßer Kräuterduft, den ich mit Wonne einsauge.
Ich nehme auf der Kunstledercouch Platz. Aus irgendeinem Grund erinnert sie mich an den Popsänger Barry Manilow, und ich singe innerlich ein paar Takte
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