GEHEIMNISSE DER NACHT
stammen. Wer zum Teufel sollte je den Unterschied erkennen?
„Nein“, flüsterte sie laut. „Das wäre nicht richtig.“
Wäre es das nicht? widersprach ihr der Verstand. Sie hatte doch gerade entschieden, es wäre ein Verbrechen, dieses Werk nicht mit anderen zu teilen. Sie hatte gerade zugegeben, sie, wäre sie die Verfasserin, hätte es in Ewigkeit bedauert, wenn ihre Worte hier unentdeckt liegen blieben. Das geschriebene Wort war schließlich dazu da, gelesen zu werden. Nicht versteckt, sondern … geteilt. Erlebt.
Wieder kniete sie sich vor die Truhe und fuhr mit der Zunge über ihre trockenen Lippen. Was sollte schon Schlimmes passieren, fragte sie sich? Dante war lange genug tot, und niemand sonst konnte von diesen Tagebüchern wissen. Oder doch? Natürlich nicht! Wenn jemand davon wüsste, hätte er die Tagebücher nicht auf dem staubigen Dachboden verschimmeln lassen.
Und es waren so viele!
„Mein Gott“, flüsterte sie noch einmal. „Das ist die reinste Goldmine. Ich sitze hier auf einer echten Goldmine.“ Und während sie dort saß und auf die mit Büchern gefüllte Truhe hinabstarrte, formte sich ein anderer Gedanke in ihrem Kopf. Die Bücher waren der Schlüssel dazu, alles wiederzubekommen, was sie wollte, alles, was sie verloren hatte. Reichtum. Macht. Ruhm. Ihre triumphierende Rückkehr nach L.A. All das lag vor ihren Füßen. Fast wie ein Geschenk – ihr hinterlassen von einem lange verstorbenen Wahnsinnigen namens Dante, der glaubte, ein Vampir zu sein.
Sie nahm behutsam das erste Tagebuch und drückte es gegen ihre Brust wie einen Liebhaber, als sie sich aufrichtete. Sie drehte sich um und trug es die Treppe hinab in ihr Arbeitszimmer.
Als sie dieses Mal die Hände über ihre Tastatur hielt, lag Dantes Tagebuch offen auf dem Tisch neben ihrem Computer. Und dieses Mal kamen die Worte.
Keith
3. KAPITEL
Maxine Stuart sah sich zum ungefähr zwölften Mal JFK auf ihrer kleinen TV/VHS-Kombination im Schlafzimmer an. In ihrem Schoß lag eine Ausgabe von Der Fänger im Roggen , und auf ihrem Nachttisch stand eine abgestandene Dose Cola, als sie die Sirenen hörte. Das Geräusch fuhr ihr in den Magen wie eine eiskalte Klinge. Sie stand langsam auf, und auch wenn sie nicht genau wusste, warum, trat sie ans Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Sie konnte die flackernden Blaulichter der Notfallfahrzeuge sehen, die auf dem Highway in der Ferne vorbeifuhren. In Richtung Süden. Sie sah in dieselbe Richtung und kniff die Augen zusammen, um das schwache rote Glühen am fernen Himmel besser erkennen zu können.
Ein vertrauter Jeep bog in ihre Auffahrt ein, und ungefähr eine Sekunde später hörte sie, wie die Vordertür ihres kleinen Hauses sich öffnete und wie ihre Mutter mit ihren Freunden sprach, als sie die beiden hereinließ. Maxine schaltete den Fernseher aus, drehte sich um und öffnete ihre Schlafzimmertür, während die Besucher durchs Haus eilten.
Ihre zwei besten Freunde kamen um die Ecke in den Flur und blieben stehen, als sie Maxine erblickten. Irgendetwas war los. Jason ließ sich nicht so einfach aus der Ruhe bringen, und er sah wirklich beunruhigt aus. Stormy – eigentlich hieß sie Tempest, aber den Namen hasste sie – war richtig blass. Maxines Mutter folgte ihnen auf dem Fuße.
„Also, was ist los, wo brennt’s?“, fragte Maxine.
„Die Spukzentrale“, erklärte Jason. „Sieht schlimm aus.“
„Furchtbar“, fügte Stormy hinzu. Ihre runden juwelenblauen Augen waren feucht. „Ich glaube, da ist keiner lebend rausgekommen.“
Spukzentrale war Maxines Spitzname für den großen namenlosen Regierungskomplex vor der Stadtgrenze. Das Hauptgebäude war riesig, und obwohl es weit ab von der Straße lag, war es durch einen hohen Elektrozaun geschützt, außerdem von mehreren Überwachungskameras umgeben und in einen Mantel des Schweigens gehüllt. Ein Forschungslabor – so lautete die offizielle Erklärung, und die leichtgläubigen Bewohner des Ortes waren davon überzeugt. Angeblich wurden dort medizinische Forschungen angestellt – sie suchten nach Heilmitteln gegen Krebs und AIDS, so etwas eben. Gute Arbeit. Fast heilig. Zu heilig, um sich einzumischen und herumzupfuschen. Wer wollte eine derart heilige Mission schon infrage stellen?
Maxine hatte ihre eigenen Theorien, wie bei den meisten Dingen, und gerade jetzt betete sie zu Gott, sie möge mit der, die sie immer für die wahrscheinlichste gehalten hatte – dass dort ein Militärlabor war, das sich mit
Weitere Kostenlose Bücher