Geheimnisse des 'Dritten Reichs'
nach Wolters’ Rüge und Stilllegung ihrer Freundschaft kam Speers fragiles Glaubwürdigkeitsgebilde bedrohlich ins Wanken. Und das in einem besonders gravierenden Punkt: dem Massenmord an den Juden. Speer hatte immer heftigst bestritten, davon Kenntnis besessen zu haben. Doch im Oktober 1971 erregte der amerikanische Historiker Erich Goldhagen Aufsehen mit der sensationellen Behauptung, Albert Speer sei bei der Rede Heinrich Himmlers, des Hauptverantwortlichen für den Holocaust, vor den Gauleitern in Posen am 6. Oktober 1943 über das Genozid-Programm und die Auslöschung der Juden dabei gewesen, gar persönlich vom Reichsführer-SS angesprochen worden. Himmlers »Posener Rede« bot die ultimative Bestätigung für die Judenvernichtung, nach der sich kein Anwesender mehr herauswinden konnte, vom Holocaust nichts gewusst zu haben. Goldhagen warf Speer also vor, von der Ausrottung der Juden – entgegen seiner ständigen Beteuerungen – gewusst zu haben. Nun schien Speer erstmalig in einer zentralen Frage zur eigenen Geschichte als Lügner entlarvt worden zu sein.
»Was ist nur in Dich gefahren, daß Du nach den Schuldbekenntnissen Deiner Erinnerungen nicht aufhörst, Dich immer wieder und immer radikaler als Verbrecher hinzustellen, für den zwanzig Jahre Gefängnis ›zu wenig‹ waren. Wenn Du wirklich davon überzeugt bist, ›daß es in einem Menschenalter für Sünden dieses riesigen Ausmaßes [nicht] irgendeine Sühne geben kann‹, dann bleibt zumindest unverständlich, warum zwischen Deinen Schuldbekenntnissen und Deinem tatsächlichen jetzigen Leben eine ausgesprochene Diskrepanz besteht (von der Playboy- oder Quick-Leser natürlich nichts wissen!). Ich selbst kenne Dich jedenfalls als einen heiteren Gesellen, der eine schöne Reise nach der anderen macht, seine alte Kumpanei besucht und strahlend von seinen literarischen und finanziellen Erfolgen erzählt. … Im übrigen haust Du erneut Deine alten Freunde bzw. Mitverbrecher in die Pfanne. … Göring, Goebbels und Bormann sind tot und haben keine Pranke mehr, zurückzuschlagen. Was sollen Deine Freunde dazu sagen, wenn Du schreibst: ›Meine moralische Verseuchung war vollkommen‹? … Es ist für mich eine ausgesprochene Belastung, Deine beiden Seiten, den schuldigen Verbrecher (im Volksmund ›Bundesbüßer vom Dienst‹) und den anderen Albert Speer mit seinem Spaß an gelungenen Tricks, mit seiner ehrlich zugegebenen Freude an Geld und Geltung, zu verarbeiten. Du kennst mich gut genug, um zu wissen, daß mir das Image, das Du Dir aus Gründen der Selbsterhaltung aufgebaut hast, in jeder Hinsicht gegen den Strich geht. Aber ich glaube, daß Du es eines Tages nicht mehr nötig haben wirst, immer wieder vor aller Welt Deine Schuld zu bekennen, um Dich dadurch letzten Endes in Deiner Untadeligkeit bestätigt zu sehen. Darf ich Dir vorschlagen, daß wir uns erst nach Beendigung dieser Phase wiedersehen, das heißt erst, wenn Du nicht mehr ausschließlich an Deiner Rehabilitation interessiert bist.«
Rudolf Wolters, Brief an Albert Speer, 24. Mai 1971
»Dieses Volk von der Erde verschwinden lassen«: War Albert Speer schon vor der Rede von SS-Chef Himmler (rechts) auf der Tagung der Reichs- und Gauleiter im Oktober 1943 abgereist?
bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin (Bayerische Staatsbibliothek/Archiv Heinrich Hoffmann)
Er kannte alle Top-Leute des Regimes. Selbst wenn er nicht bei Himmlers Rede zur Judenvernichtung in Posen im Saal saß – obwohl alle Indizien für seine Anwesenheit sprechen: Er muss davon gewusst haben.
Dan van der Vat, Speer-Biograf
Seine Strategie, sein gesamter Rehabilitationsplan war im Begriff zu scheitern. In seiner tiefen Verzweiflung reagierte Hitlers Helfer panisch, denn nun lag es an ihm, seine Nicht-Anwesenheit bei Himmlers Hetzrede am Nachmittag des 6. Oktober 1943 zu beweisen. Und dies war umso schwerer, als Speer selbst am Vormittag vor den Gauleitern in Posen eine Rede in seiner Funktion als Rüstungsminister gehalten hatte. Er behauptete nun fortwährend, nach seiner und vor Himmlers Rede abgereist zu sein. Von einem loyalen einstigen Weggefährten beschaffte er sogar eine eidesstattliche Versicherung, die von seiner rechtzeitigen Abreise zeugen sollte. Die Überzeugungsarbeit beim Erinnerungsvermögen von Walter Rohland – einst enger Vertrauter im Rüstungsministerium – in Sachen Eid gibt einen tiefen Einblick in seine grundsätzliche Täuschungsbereitschaft, wie auch bei seiner
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