Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs (German Edition)
Verhandlungsunfähigkeit zerschlugen sich, als der Angeklagte in einem wirren Aufbäumen erklärte, dass sein »Vortäuschen von Gedächtnisverlust rein taktischer Art« gewesen sei. Nach dieser Erklärung sank er wieder auf die Anklagebank und verfolgte mit leergebrannten Augen das Geschehen. War dieses Aufbäumen ein Anflug von sinnlosem Stolz oder nur der Versuch, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken? Rudolf Heß hat auch im Verfahren von Nürnberg keinen Anflug von Reue gezeigt. Verschlossen, voll herrischer Ablehnung gegenüber dem Gericht, verharrte er gedanklich in der Welt, die er 1941 verlassen hatte.
»Heß spinnt«: Vor dem Nürnberger Tribunal behauptete der einstige »Führer«-Stellvertreter, an Gedächtnisverlust zu leiden. Später gab er zu, nur simuliert zu haben.
Keystone, Hamburg (KPA/Zuma)
Der sowjetische Ankläger verlangte auch für Heß die Todesstrafe, die Amerikaner wollten eine begrenzte Haftstrafe. Am Ende einigten sie sich auf »lebenslänglich«. Vielleicht wäre das Urteil milder ausgefallen, wenn Heß auf seine Schlussworte verzichtet hätte. Mit starren, in eine leere Ferne gerichteten Augen formulierte er das Bekenntnis eines Uneinsichtigen. Als Göring ihm zuflüsterte, er solle besser schweigen, herrschte er den Rivalen von einst an: »Unterbrechen Sie mich nicht.« Dann sagte er: »Es war mir vergönnt, viele Jahre meines Lebens unter dem größten Sohne zu wirken, den mein Volk in seiner tausendjährigen Geschichte hervorgebracht hat. Selbst wenn ich es könnte, wollte ich diese Zeit nicht auslöschen aus meinem Dasein. Ich bereue nichts. Dereinst stehe ich vor dem Richterstuhl des Ewigen. Ihm werde ich mich verantworten, und ich weiß, er spricht mich frei.« Der letzte Satz entsprach fast wörtlich dem Schlusswort Hitlers vor dem Münchener Volksgericht von 1924. Im Deutschland von 1946, dem zerbombten Hungerland, verhallten diese Phrasen ungehört.
Doch für Heß waren sie der irrwitzige Versuch der Rehabilitierung, das Verlangen nach Rückkehr in den Kreis der Jünger. Nach dem Scheitern seines absurden Liebesbeweises in der Nacht des 10. Mai 1941 war er jetzt wieder Hitlers Helfer. An diesem fatalen Anachronismus hielt er bis zu seinem Ende fest. Die vier Jahrzehnte im Kriegsverbrechergefängnis von Spandau waren für den Stellvertreter nur noch ein Warten auf den Tod. Einen Wachtposten fragte er noch in Nürnberg: »Warum lässt man mich nicht sterben?« Seit 1966 war er der einzige Häftling im teuersten Gefängnis der Welt. Alle anderen Paladine waren längst entlassen worden. Bei Heß scheiterten sämtliche Versuche am Veto der Sowjetunion, obwohl sich öffentlich und diplomatisch viele Stimmen für eine Freilassung des hochbetagten Gefangenen einsetzten – die Regierungen der drei westlichen Siegermächte, Bundeskanzler und Bundespräsidenten. Auch während der Jahrzehnte im Gefängnis blieb Heß sich treu – ein Sonderling. Erst 1969 erlaubte er seiner Familie, ihn zu besuchen.
Nach der Urteilsverkündung in Nürnberg stand in den Zeitungen, Heß sei nun völlig verrückt geworden; er liege auf seiner Pritsche und starre unentwegt zur Decke. Als ich das las, war ich erleichtert: Ich wusste, er spielt wieder einmal den Toten. Mein Mann nannte das ulkigerweise Relaxieren, heute würde man es autogenes Training nennen. Wenn der Posten ihn so sah, sagte der natürlich: »Heß spinnt.«
Ilse Heß, Ehefrau, 1967
Sein Tod am 17. August 1987 machte ihn endgültig zum Mysterium der Zeitgeschichte. Bis heute gibt es Stimmen, die nicht an die alliierte Verlautbarung vom Selbstmord des Stellvertreters glauben mögen. Schuld daran ist in nicht unerheblichem Maß das ungeschickte Verhalten der »vier Mächte«: Die Vernichtung von Beweismaterialien, Widersprüche in öffentlichen Erklärungen, eine schlampig durchgeführte Obduktion und nicht zuletzt die Geheimhaltung von Akten und Untersuchungsberichten – all dies hat zu allerlei geheimnisvollen Verschwörungstheorien beigetragen. Wie ein Magnet hat der Tod von Heß, hervorgerufen durch ein Elektrokabel im Gartenhäuschen von Spandau, selbsternannte Experten und dubiose Zeugen angezogen.
»Einziger Häftling im teuersten Gefängnis der Welt«:
Heß 1983 im Garten der Spandauer Anstalt.
Keystone, Hamburg (N.N.)
Der letzte Gefängnispfarrer Michel Röhrig sagte aus, dass der rapide gesundheitliche Verfall von Rudolf Heß im Frühjahr 1987 den Lebenswillen des Gefangenen endgültig gebrochen habe. Als Röhrig Anfang
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