Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs (German Edition)
August seinen Urlaub antreten wollte, habe ihn Heß beschworen: »Fahren Sie nicht, ich werde Sie brauchen.« Auch ein bei dem Toten gefundener Abschiedsbrief spricht gegen die Mordthese: »Geschrieben ein paar Minuten vor meinem Tode«, kritzelte Heß auf die Rückseite eines Briefes seiner Schwiegertochter und bedankte sich für die jahrelange Zuwendung. Heß-Sohn Wolf-Rüdiger hielt den Brief dennoch für eine Fälschung, da er in der Diktion nicht mehr dem Stil seines Vaters zum Zeitpunkt des Todes entspreche. Ein in Auftrag gegebenes Gutachten konnte diese Hypothesen nicht bestätigen.
Für Aufsehen sorgte der letzte Pfleger von Heß in Spandau, der Tunesier Abdullah Melaouhi, als er sich wenige Wochen nach dem Tod seines Schützlings bei der Presse meldete und von zwei ihm unbekannten Männern in amerikanischer Uniform berichtete, die neben dem Toten gestanden und »wie Mörder« ausgesehen hätten. Melaouhi kam freilich erst über eine halbe Stunde nach dem Tod von Heß in das Gartenhäuschen, in dem der Gefangene gefunden wurde. Die beiden Männer in US -Uniform waren wohl der Wachoffizier Al Ahuja und sein Sanitäter. Ahuja: »Er konnte uns gar nicht kennen, wir sind uns nie vorher begegnet.« Eine plausible Erklärung, da die Wachkompanie, die jeden Monat wechselte, in der Regel keinen Kontakt zum ständigen Personal von Spandau hatte. Abdullah Melaouhi lässt sich im Übrigen nur gegen ein saftiges Honorar interviewen. Vor einigen Jahren hat er gemeinsam mit dem ehemaligen Mitglied des Bundesvorstandes der NPD, Olaf Rose, ein Buch geschrieben und tourt nun mit seinen zweifelhaften Mutmaßungen durch die rechte Szene.
Auch eine zweite Obduktion der Leiche, von der Familie in Auftrag gegeben, diente als Argumentationshilfe gegen die alliierte Version. Tatsächlich wies das Gutachten des renommierten Münchener Pathologen Wolfgang Spann dem britischen Professor James Cameron nachlässige Untersuchungen nach. Bei der Zweitobduktion hätten wichtige Teile der Leiche, darunter die sogenannten Halseingeweide – Kehlkopf, große Teile der Luftröhre, Schilddrüse, Zunge sowie eine Halsschlagader – gefehlt, so Spanns Kollege Wolfgang Eisenmenger, der ebenfalls an der Sektion beteiligt war. Die Frage, ob der Tod durch Erhängen oder Erdrosseln herbeigeführt wurde, konnte deshalb nicht geklärt werden. Die Reste der sogenannten »Strangmarke« im Nacken des Toten seien jedoch völlig waagerecht verlaufen – so wie man es typischerweise beim Erdrosseln findet und nicht beim Erhängen, wo diese Marke gewöhnlich nach oben ansteigt, so Eisenmenger. Anhaltspunkte für eine dritte Hand, also Mord, konnten jedoch auch Spann und Eisenmenger nicht finden. So bleiben Fragen in Sachen Rudolf Heß, die wohl nur durch die Öffnung der entsprechenden Archive geklärt werden können.
Es bleibt offen, ob es sich um ein atypisches Erhängen in einer ungewöhnlichen Position, zum Beispiel fast liegend oder liegend, gehandelt hat oder um Drosseln, also das Zuziehen eines Strangulationswerkzeugs.
Wolfgang Eisenmenger, Rechtsmediziner und Obduzent der Heß-Leiche
»Mag sein, dass Altnazis und Jungextremisten nun einen neuen Gedenktag haben«, hatte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im Sommer 1987 nach dem Tod von Heß im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis geunkt, doch »zum Märtyrer taugt der Sonderling kaum«. Diese Prognose freilich sollte sich als Fehleinschätzung erweisen. Heß wurde in den vergangenen 25 Jahren tatsächlich zu der Kultfigur für Neonazis aus aller Welt – nicht zuletzt wegen seines mysteriösen Tods in Spandau. Er selbst hatte eine Glorifizierung wohl nie gewollt. Seinem Sohn sagte er einmal, er halte kurz geschorene Skinheads in Bomberjacken für »Spinner und Idioten«. Doch seinem posthumen Ruhm als Popstar der rechten Szene tat das keinen Abbruch.
Heß als Opfer der Alliierten und als guter Nazi war instrumentalisierbar durch diejenigen, die nach dem Krieg als Neonazis wieder nach Leitbildern suchten.
Manfred Görtemaker, Historiker und Heß-Biograf
»Der gute Nazi«?: Neonazi-Aufmarsch in Wunsiedel anlässlich des Todestages von Heß, August 2004.
Picture Alliance, Frankfurt (dpa-Fotoreport)
Noch im August 1987 kam es in der Bundesrepublik zu ersten Heß-Demonstrationen und -Schmierereien. In Frankfurt deponierten Neonazis einen Brandsatz im Hauptbahnhof und verübten einen Anschlag auf Fahrzeuge der US -Besatzungsmacht. Ab 1988 sorgte der jährlich stattfindende
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