Geheimnisse des Zweiten Weltkriegs (German Edition)
sollte.
In Deutschland selbst unternahm das Regime alles, um den unangenehmen Vorfall schnell vergessen zu machen. Die Wochenschau der zweiten Maiwoche wurde aus den Kinos zurückbeordert, weil in zwei Ausschnitten noch der Stellvertreter zu sehen war. Krankenhäuser und Straßen, die nach Heß benannt waren, wurden umbenannt, sein Name aus der NS -Literatur getilgt. Mitarbeiter und Adjutanten von Heß mussten nach monatelangen Verhören ins KZ . Auch der Astrologe Ernst Schulte-Strathaus wurde verhaftet, ein sofortiges Verbot okkultistischer Zirkel und der Ausübung von Alternativwissenschaften erlassen. »Sonderbarerweise hatte nicht ein einziger Hellseher vorausgesehen, dass er verhaftet würde«, bemerkte Goebbels daraufhin süffisant. »Ein schlechtes Berufszeichen.«
Hitler selbst hat Heß wohl nie verziehen. Albert Speer berichtete von einem Gespräch im Jahr 1944: Der »Führer« habe darauf bestanden, falls sein ehemaliger Stellvertreter jemals ausgeliefert werden würde, ihn »vor ein Standgericht zu stellen und sofort zu exekutieren«. In einem seiner Tischgespräche drohte er, Heß bleibe bei einer Rückkehr nur die Alternative »Erschießung oder Irrenhaus«. Erst in den letzten Tagen des Kriegs schien sich der gescheiterte Diktator wieder auf andere Weise an seinen einstigen Gefährten erinnert zu haben. Hitler-Fahrer Erich Kempka berichtete Ilse Heß nach dem Krieg, in einem seiner letzten nächtlichen Monologe habe Hitler von ihrem Gatten als einzigem »Idealisten reinsten Wassers in der Bewegung« geschwärmt.
Die Geschichte des Gefangenen Heß besteht vor allem aus der Schilderung pathologischer Zustände. Die Vernehmer berichteten nach London, dass Heß wohl tatsächlich nicht mehr ganz auf dem Boden der Realität stehe. Aus der Haft schrieb er noch einmal einen Abschiedsbrief an Hitler – ein Dokument geistiger Erstarrung: »Kaum je war es Menschen vergönnt, mit so viel Erfolg einem Manne und dessen Idee zu dienen, als denen unter Ihnen. Haben Sie von ganzem Herzen Dank für alles, was Sie mir gegeben haben und was Sie mir gewesen sind. Ich schreibe diese Zeilen in klarer Erkenntnis dessen, dass mir kein anderer Ausweg bleiben wird – so schwer mich dieses Ende ankommt. In Ihnen, mein Führer, grüße ich unser Großdeutschland, das einer ungeahnten Größe entgegengeht. Vielleicht bringt mein Flug trotz meines Todes oder gerade durch meinen Tod Frieden und Verständigung mit England. Heil mein Führer.« Einen Tag später stürzte er sich in seinem Gefängnis eine Treppe hinab. Doch dieser erste von insgesamt drei Selbstmordversuchen scheiterte. Heß brach sich nur ein Bein.
Wenn ich es richtig beurteile, ist Hitler über den »Treuebruch« seines Stellvertreters nie hinweggekommen.
Albert Speer
Während der prominenteste Gefangene des Zweiten Weltkriegs in britischer Haft immer mehr versteinerte, setzten die Armeen der Anti-Hitler-Koalition zum Sturm auf jenes »Großdeutschland« an, das Heß so gepriesen hatte. Regelmäßig mussten sich Psychiater um den berühmten Häftling kümmern. Seine Magenkrämpfe wurden chronisch. Die Wachen wurden angewiesen, weitere Selbstmordversuche zu unterbinden. Beschwerdebriefe des Gefangenen zeigten Anzeichen eines ausgeprägten Verfolgungswahns: »Sie taten ätzende Säure ins Essen: Die Haut meines Gaumens hing in Fetzen herunter.« Oder: »Das Essen schmeckt immer nach Seife, Spülwasser, Dung, verfaultem Fisch oder Karbolsäure. Das Schlimmste waren die Drüsensekrete von Kamelen oder Schweinen.« Aus den paranoiden Symptomen seiner Krankheit flüchtete Heß schließlich in die Nacht der Erinnerungslosigkeit. Einer der behandelnden Ärzte befand: »Heß leidet an einer hysterischen Amnesie. Sie ist mit jener Form der Amnesie vergleichbar, die viele Soldaten unter starken Belastungen im Kriege entwickeln.«
Auch vor dem Kriegsverbrechertribunal von Nürnberg schien er zunächst unter Gedächtnisverlust zu leiden. Rudolf Heß wurde in allen Punkten des Verfahrens angeklagt: Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Juristisch war dies ein fragwürdiges Unterfangen – denn der Stellvertreter hatte vor dem Beginn des eigentlichen Massenmords Deutschland verlassen, und an der Kriegsführung Hitlers war er nicht beteiligt. Schließlich wurden die letzten beiden Punkte fallen gelassen.
Doch alle Hoffnungen der Familie und der Verteidiger auf eine Einstellung des Verfahrens wegen
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