Geheimnisse einer Sommernacht
betätigten sie die lange Handkurbel. Sie pumpten mit aller Kraft, damit sich in der Luftkammer der Maschine genügend Druck aufbaute, um den Wasserstrahl mindestens dreißig Meter hoch in die Luft zu schicken. Aber gegen das Inferno kamen die Männer trotz aller Anstrengungen nicht an.
Minuten kamen Annabelle wie Jahre vor. Simon, komm raus … Simon, komm …, betete sie inständig.
Wieder taumelten ein halbes Dutzend Gestalten aus dem Fabriktor. Ihre Gesichter, ihre Kleider waren schwarz vom Rauch. Simon war nicht unter den Entkommenen, stellte Annabelle sofort fest und richtete ihren Blick wieder auf den Löschwagen. Die Männer hatten den Strahl inzwischen auf die angrenzende Werkshalle gerichtet und setzten sie in aller Eile unter Wasser, damit sich das Feuer nicht weiter ausbreiten konnte. Ungläubig schüttelte Annabelle den Kopf. Sie hatten die Gießerei also schon aufgegeben. Mit allem, was darin war? Einschließlich der Menschen, die in ihrem Inneren eingeschlossen waren? Sie konnte nicht länger untätig warten. Sie musste etwas tun.
Entschlossen rannte sie zur anderen Seite der Gießerei und suchte verzweifelt in der Menge nach ihrem Mann.
Dann sah sie einen der Werkstattleiter, der eine Liste der evakuierten Gießereiarbeiter aufstellte, und eilte zu ihm.
„Wo ist Mr. Hunt?“, fragte sie barsch und musste ihre Frage ein paar Mal wiederholen, bevor sie sich Gehör verschaffen konnte.
Der Mann schenkte ihr nur einen flüchtigen Blick. „Da drinnen war noch eine Detonation“, antwortete er äußerst ungeduldig. „Mr. Hunt hat geholfen, einen Mann zu befreien, der unter herabfallenden Trümmern eingeklemmt war. Seitdem ist er nicht mehr gesehen worden.“
Trotz der sengenden Hitze, die von der Gießerei ausstrahlte, lief es Annabelle eiskalt über den Rücken. Sie zitterte am ganzen Körper. „Er müsste längst draußen sein, wenn er noch selber gehen könnte. Er braucht Hilfe. Schicken Sie jemanden, der ihn suchen soll.“
Der Werkstattleiter sah Annabelle an, als wäre sie nicht ganz bei Sinnen. „Da hinein? Das wäre Selbstmord“, sagte er. Er ging zu einem Mann, der gerade zusammengebrochen war, und schob ihm einen Mantel unter den Kopf. Als er sich dann noch einmal nach Annabelle umdrehte, war sie verschwunden.
26. KAPITEL
Falls wirklich jemand beobachtet hatte, dass eine Frau in das brennende Gebäude gelaufen war, dann hatte er nicht versucht, sie zurückzuhalten. Ein Taschentuch vor Mund und Nase haltend bahnte sich Annabelle blinzelnd, mit tränenden Augen, ihren Weg durch ätzende Rauchschwaden. Das Feuer hatte auf der gegenüberliegenden Seite der Gießerei begonnen und fraß sich gemächlich in blauen, weißen und gelben Flammen durch die Trümmer.
Beängstigender als die sengende Hitze waren die Geräusche: das Brausen des Feuers, das Zischen der Flammen, das Ächzen und Stöhnen sich biegenden Metalls, das Scheppern und Klirren der schweren Maschinen? die wie Spielzeug zusammensackten. Hin und wieder spritzte flüssiges Metall wie mit der Kartätsche geschossen durch das Gebäude.
Annabelle raffte ihre Röcke und stolperte durch die glühenden, knietiefen Trümmer. Immer wieder rief sie nach Simon, aber ihre Stimme verhallte unhörbar in all dem Krach. Als sie schon voller Verzweiflung glaubte, ihn nicht mehr zu finden, sah sie plötzlich, dass sich unter den Trümmern etwas bewegte.
Mit einem Aufschrei rannte sie zu der am Boden liegenden Gestalt. Es war Simon, er lebte und war bei Bewusstsein. Sein Bein war unter dem Stahlpfeiler eines umgestürzten Krans eingeklemmt. Als er Annabelle sah, verzog sich sein rauchverschmiertes Gesicht vor Entsetzen. Heiser hustend versuchte er in eine halb sitzende Position zu rutschen. „Annabelle“, krächzte er. „Verdammt! Nein! Raus! Zum Teufel, was willst du denn hier?“
Sie schüttelte nur den Kopf, da sie nicht diskutieren wollte.
Sofort sah sie, dass sie den schweren Stahlpfeiler auch mit Simons Hilfe nicht bewegen konnte. Sie musste etwas finden, einen provisorischen Hebel, womit sie ansetzen konnte. Sie wischte sich über die brennenden Augen und durchsuchte einen Stapel Gussformen, zerbrochene Steine und einen Haufen Gegengewichte. Über allem lag eine dicke Schicht aus Ol und Asche. Immer wieder rutschte sie aus, während sie sich suchend durch das Trümmerfeld bewegte. Gegen eine halb eingefallene Wand lehnte eine Reihe riesiger Waggonräder, manche waren größer als Annabelle. Dann entdeckte sie einen Stapel
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