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Geheimnisse einer Sommernacht

Geheimnisse einer Sommernacht

Titel: Geheimnisse einer Sommernacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kleypas
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schaute sich ungeduldig um, als könne er ihren fragenden Blick nicht ertragen. „Du bist mir zu wichtig. Ich möchte dich dieser Gefahr einfach nicht aussetzen“, zwang er sich fortzufahren. „Es ist meine Pflicht, dich zu schützen.“
    Annabelle sah ihn mit großen Augen an. Seine Erklärung rührte sie zutiefst. Während sie einander anstarrten, verspürte Annabelle eine eigenartige Spannung, ein Gefühl, das nicht direkt unangenehm, aber dennoch irgendwie beunruhigend war. Sie lehnte den Kopf gegen seine Hand und sah ihn durchdringend an. „Ich freue mich wirklich, dass du mich beschützen willst“, sagte sie leise. „Aber ich möchte nicht wie in einem Elfenbeinturm leben.“ Sie ahnte seine inneren Kämpfe, deshalb wurde sie deutlicher: „Ich möchte wissen, was du in den Stunden tust, in denen du nicht bei mir bist. Ich möchte den Ort kennenlernen, der dir so wichtig ist. Bitte, Simon.“
    Einen Moment lang schwieg Simon nachdenklich. „Na gut“, meinte er schließlich in unüberhörbar ruppigem Ton.
    „Da du offensichtlich ja sonst keinen Frieden gibst, nehme ich dich morgen mit. Aber gib mir nicht die Schuld, wenn deine Erwartungen enttäuscht werden. Ich habe dich gewarnt.“
    „Danke“, sagte Annabelle und schenkte ihm ein zufriedenes, versöhnliches Lächeln.
    „Glücklicherweise will Westcliff morgen auch die Gießerei besichtigen. Eine gute Gelegenheit für euch zwei, euch besser kennenzulernen.“
    „Wie schön“, brachte Annabelle wenig erfreut heraus. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um auf diese Nachricht nicht empört zu reagieren. Die abwertenden Bemerkungen über sie und die Voraussage, dass eine Ehe mit ihr Simons Leben ruinieren würde, hatte sie dem Earl nämlich noch nicht verziehen. Aber wenn Simon annahm, dass die Gesellschaft dieses aufgeblasenen Wichtigtuers sie von ihrem Besuch abhalten konnte, dann hatte er sich getäuscht. Sie verzog das Gesicht zu einem dünnen Lächeln und dachte den Rest des Abends darüber nach, dass eine Ehefrau ihrem Mann die Freunde bedauerlicherweise nicht aussuchen konnte.
    Am nächsten Morgen nahm Simon Annabelle mit auf das riesige Gelände der Eisenbahnfabrik. Es verschlug ihr fast die Sprache, als sie das Ausmaß der Fabrik sah, wesentlich größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Lange Zeilen fensterloser Gebäude reihten sich hintereinander, aus unzähligen Schornsteinen stieg schwarzer Rauch auf, der sich auf alles legte, auf Gebäude, Menschen, Werkstätten, Betriebshöfe und Wege. Als Erstes besichtigten sie eine Montagehalle, in der neun Lokomotiven in verschiedenen Produktionsstufen zusammengebaut wurden. Das Ziel der Firma war es, im ersten Jahr fünfzehn und im folgenden die doppelte Anzahl von Dampfloks zu produzieren. Als sie erfuhr, dass die Kosten für Löhne und Material der Lokomotivfabrik im Durchschnitt allein in der Woche eine Million Pfund betrugen und die Kapitalanlagen den zweifachen Wert hatten, sah Annabelle ihren Mann völlig fassungslos an. „Mein Gott“, staunte sie. „Wie reich bist du denn?“
    Simons Augen funkelten plötzlich lausbübisch, als er sich zu ihr hinunterbeugte und ihr ins Ohr flüsterte: „Reich genug, damit Sie nie ohne Wanderschuhe laufen müssen, Madam!“
    Als Nächstes gingen sie ins Konstruktionsbüro, wo Baupläne, Zeichnungen und Prototypen aus Holz nach genauen Bauplänen gefertigt wurden. Später erklärte Simon ihr, dass die Holzmuster zugleich als Formen dienten, in die das flüssige Eisen gegossen wurde und dass es darin auskühlte. Fasziniert stellte Annabelle einige kurze Fragen über das Gussverfahren, über die Technik der hydrostatischen Nietmaschinen und Pressen und weshalb schnell gekühlter Stahl härter als langsam gekühlter war.
    Trotz seiner anfänglichen Ablehnung schien Simon nun doch Gefallen daran zu finden, mit ihr durch die Betriebshallen und Werkstätten zu gehen. Ab und zu musste er sogar über ihre erstaunten Fragen und ihr fassungsloses Schweigen lächeln. Vorsichtig geleitete er sie schließlich auch in die Gießerei, wo Annabelle entdeckte, dass seine Beschreibung vom Vorhof der Hölle durchaus nicht so übertrieben war. Es lag nicht am Befinden der Arbeiter – die wurden gut behandelt –, es waren auch nicht die Gebäude, die sich in relativ gutem Zustand befanden. Nein, es war die Natur der Arbeit selbst. Eine Art geordnetes Tollhaus aus Qualm und Dampf, aus ohrenbetäubendem, dröhnendem Krach und heißer, roter Glut in brodelnden Schmelzöfen

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