Geheimnisse einer Sommernacht
leisen, aber schrillen Ton.
Sie fühlte, wie sie hochgezogen wurde. Simon riss sie so kräftig am Arm in die Höhe, dass sie hilflos an seiner Brust landete. Er sagte etwas – was, konnte sie nicht verstehen –, sie hörte nur das Knallen kleiner Explosionen und das Brausen des Feuers, das sich gierig im Gebäude ausbreitete. Vergebens versuchte sie, an Simons Miene zu erkennen, was er wollte. Wie wild schlug sie mit beiden Händen um sich, um sich gegen die heißen Metallsplitter zu wehren, die unablässig wie ein Schwärm lästiger, stechender Insekten durch die Luft schwirrten und sie im Gesicht und im Nacken trafen.
Simon schleifte sie durch das Durcheinander und versuchte, sie gleichzeitig mit seinem Körper zu schützen. Eine riesengroße Wassertonne rollte schwerfällig vor ihnen her, alles zermalmend, was ihr in den Weg kam. Kurz bevor das Ungetüm an ihnen vorbeitaumelte, stieß Simon Annabelle fluchend zur Seite. Dann setzte eine neue Folge von Detonationen ein. Überall waren Menschen. Schubsend und schreiend rannten die Männer wie wild um ihr Leben den Ausgängen zu. Die Luft war zu heiß zum Atmen. Benommen fragte sich Annabelle, ob sie bei lebendigem Leibe verbrennen würden, bevor sie den Ausgang erreichten. „Simon“, rief sie, während sie sich an seine Hüften klammerte. „Ich glaube, du hast recht.“
„Womit?“, fragte er, den Blick fest auf den Ausgang gerichtet.
„Die Fabrik ist zu gefährlich für mich.“
Wortlos beugte sich Simon zu ihr hinunter, warf sie sich mit einem Ruck bäuchlings über die Schulter und kletterte, den Arm fest um ihre Knie geschlungen, über umgestürzte Kräne und Maschinen. Während sie über seiner Schulter hing, bemerkte sie plötzlich blutgetränkte Löcher in seiner Jacke. Die Metallsplitter waren auf ihn niedergegangen, als er sie mit seinem Körper vor den Detonationen geschützt hatte. Hindernis für Hindernis überwand Simon, erreichte schließlich das breite Hallentor, stellte Annabelle auf den Boden und schrie jemandem zu, er solle auf sie aufpassen. Erschrocken drehte Annabelle sich um. Simon hatte sie Mr. Mawer übergeben.
„Bringen Sie sie aus der Gefahrenzone des Gebäudes!“, schrie Simon heiser.
„Ja, Sir!“ Mit festem Griff packte der Werkstattleiter Annabelles Arm.
„Wohin willst du, Simon?“, jammerte sie, während sie gewaltsam weggezerrt wurde.
„Ich muss mich vergewissern, dass alle Männer herauskommen.“
„Nein, Simon“, schrie sie entsetzt. „Bleib bei mir …“
„In fünf Minuten bin ich zurück“, sagte er barsch.
Vor Wut und Angst traten ihr die Tränen in die Augen. „In fünf Minuten ist das Gebäude niedergebrannt.“
„Gehen Sie“, rief Simon seinem Werkstattleiter zu und wandte sich ab.
„Simon“, kreischte Annabelle und wehrte sich heftig, als sie ihn in der Gießerei verschwinden sah. Blaue Flammen schlugen aus dem zusammenbrechenden Dach. Ächzend verformten sich die Maschinen in der Halle unter der ungeheuren Hitze. Schwarzer Rauch quoll aus den Toren. Annabelle entdeckte schnell, dass es nutzlos war, sich gegen Mr. Mawer zu wehren. Sie atmete tief durch und musste husten, da sich ihre malträtierten Lungen gegen die verqualmte Luft wehrten.
Mawer brachte Annabelle bis zu einem Kiesweg. „Er kommt gleich zurück! Sie bleiben hier und warten auf ihn.“
Streng befahl er ihr, sich nicht von der Stelle zu bewegen. „Versprechen Sie mir das, Mrs. Hunt? Ich muss mich um meine Männer kümmern. Zusätzlichen Ärger von Ihnen kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.“
„Ich bleibe hier. Gehen Sie nur“, sagte sie, den Blick fest auf das Eingangstor gerichtet.
„Ja, Madam.“
Während um sie herum wilde Geschäftigkeit herrschte, stand Annabelle völlig regungslos auf dem Kiesweg und starrte auf das Werkstor. Männer, die um ihr Leben rannten, liefen an ihr vorbei, andere krochen über die Verwundeten. Nur wenige standen bewegungslos wie sie und starrten mit leerem Blick auf das Flammenmeer. Das Feuer wütete mit einer Kraft, die den Boden erzittern ließ. Mit rasender Geschwindigkeit fand es immer wieder neue Angriffsflächen in der Gießerei. Zwei Dutzend Männer rollten einen Feuerlöschwagen nahe an das Gebäude, er musste irgendwo auf dem Werksgelände gestanden haben, denn Hilfe von außen konnte in der Kürze der Zeit noch nicht eingetroffen sein. Die Männer arbeiteten fieberhaft, um den Lederschlauch der Spritze mit einer unterirdischen Wasserzisterne zu verbinden. Dann
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