Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Jahres 1861 Anspruch zu haben glaubte. Charlotte freute sich schon sehr auf das kommende Jahr, in dem sie in die Gesellschaft eingeführt und Königin Viktoria vorgestellt würde, denn dann würde eine ganze Saison angefüllt mit Tanz, Bällen und prunkvollen Festmahlen folgen, bei denen sie (da war sie sich ganz sicher) der glitzernde Mittelpunkt sein würde. Ihre Mutter hatte ihr für diese Zeit ein eigenes Dienstmädchen versprochen, und so freute sie sich bereits auf eine kecke junge Frau, die nicht nur in der Lage wäre, ihr Haar zu Locken aufzutürmen und einen Spitzenkragen zu reparieren, sondern auch noch wusste, welches Diadem man zu welcher Gelegenheit trug.
Leider war Lily nicht diese junge Frau.
»Miss Charlotte«, sagte Mrs Beaman, nicht ohne eine gewisse Portion sorgsam verhohlener Vorfreude, »darf ich Ihnen Lily vorstellen?«
Sie bedeutete Lily, das Teetablett auf dem nächstbesten Tischchen abzustellen, doch Lily stand bloß mit sperrangelweit aufgerissenem Mund da, bestaunte mit kugelrunden Augen die Fenster, die Wände, den Boden, die Möbel und schnappte ein ums andere Mal vor Entzücken nach Luft. Plötzlich entdeckte sie auf dem Kaminsims einen Porzellankrug mit den vertrauten blauen Vögeln, ließ das Tablett klirrend auf das Tischchen plumpsen und humpelte unter Schmerzen (denn Mrs Beamans Schuhe waren ihr zu klein) darauf zu.
»Das ist genau wie die Teekanne von Mama!«, rief sie aus und kratzte sich vor Aufregung an den Flohbissen auf ihren Armen. »Habt ihr das bei Onkel gekauft?«
Miss Charlotte starrte sie mit maßloser Verblüffung an. Sie sah aus, so beschrieb Mrs Beaman es später, als hätte vor ihren Augen ein Einhorn den Salon betreten, um Gurkensandwiches zu servieren.
»Grace musste nämlich unsere Teekanne versetzen – sie hat einen Shilling dafür bekommen«, plapperte Lily munter weiter und schaute strahlend zu Miss Charlotte hinüber. Sie nahm den Krug in die Hand, woraufhin Mrs Beaman, um eine drohende Katastrophe zu verhindern, rasch um das Sofa herumging und ihn ihr vorsichtig aus der Hand nahm. »Gehst du oft zu Onkel?«, fragte sie Miss Charlotte.
»Mrs Beaman, wer ist diese Person?«, fragte Charlotte mit schwacher Stimme.
Mrs Beaman konnte eine Weile nicht antworten, da sie eine Art Reigen um Lily herum aufführte, um zumindest die kostbarsten Gegenstände vor Lilys neugierigem Zugriff zu schützen oder ihr sacht wieder aus den Händen zu nehmen, was sie zur näheren Begutachtung hochgehoben hatte. Als Lily sich ein wenig beruhigt hatte und bei den schweren Samtvorhängen stehen blieb, um sie zu streicheln wie das Fell eines Tieres, brachte Mrs Beaman schließlich eine Antwort heraus: »Lily ist neu in unserem Haushalt, Miss. Ihr Herr Papa und Ihre Frau Mama haben sie angestellt.«
»Das kann ich kaum glauben. Als was denn?«
»Ich glaube, äh, als Kammermädchen.«
»Und für wen, um des Himmels willen?«
Mrs Beaman hüstelte verlegen. »Für Euch, Miss Charlotte.«
Der Entsetzensschrei, den Charlotte Unwin ausstieß, wurde von ihrem Vater und ihrer Mutter vernommen, die just in diesem Augenblick nach Hause kamen. Mr Unwin eilte flugs in den Salon, erfasste mit einem Blick die Situation und befahl Lily, sofort in die Küche zurückzugehen. Lily kam der Aufforderung auch sogleich nach, jedoch nicht, ohne ihm vorher noch ein strahlendes Lächeln zu schenken und sich einen Keks vom Teetablett zu nehmen.
Mr Unwin bedeutete der Köchin, zu bleiben, und zog – während Mrs Unwin sich bemühte, Charlotte zu beruhigen – einen Zehn-Shilling-Schein aus derInnentasche seines Jacketts. »Mrs Beaman, vielen Dank im Voraus, dass Sie in einer heiklen Situation Ihr Bestes geben«, begann er.
Mrs Beaman knickste und zwang sich, nicht auf den Zahlenwert der Banknote zu schielen. Allerdings hoffte sie auf eine Pfund-Note.
»Es ist nämlich so: Die neu angestellte junge Person … «
»Lily?«, vergewisserte sie sich. Für fünf Pfund war es jedenfalls die falsche Farbe.
»Lily«, bestätigte er und fuhr fort: »Lily wurde von Mrs Unwin und mir aus Wohltätigkeit aufgenommen. Ihre Schwester wird als Sargbegleiterin bei uns arbeiten und war in Sorge darum, dass auch Lily untergebracht ist, da sie ein wenig … ein wenig … « Da ihm keine passende Formulierung einfiel, wedelte er vage mit beiden Händen vor seinem Kopf herum.
»Ich verstehe, Sir«, sagte Mrs Beaman. Das war ja nun offensichtlich.
»Ich
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