Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Lust und Laune arbeiten, denn da es sich um einArmenbegräbnis handelte, waren keine Angehörigen oder Freunde des Verstorbenen zu erwarten, auf die sie hätten Rücksicht nehmen müssen, und für pietätvolles Verhalten bestand somit keine Notwendigkeit.
Neben der Grube stand ein Karren mit einem davorgespannten Maultier. Auf dem Karren lagen drei schlampig verschnürte, längliche Bündel: Selbst ein einfacher Sarg war für die Angehörigen unerschwinglich gewesen, und so wurden die Leichen der Armen in ein grobes Tuch gewickelt, das die Gemeinde bereitstellte. Aus einem der Bündel schauten ein Haarschopf und ein unbedecktes Bein hervor, und Grace schauderte bei dem Anblick. Wenigstens, ging es ihr durch den Sinn, war Mama das schreckliche Los eines Armenbegräbnisses erspart geblieben, denn als sie starb, war noch genügend Geld für ein angemessenes Begräbnis und eine eigene Grabstelle vorhanden gewesen. Ein paar freundliche Nachbarn hatten dies arrangiert, allerdings konnte Grace sich kaum noch daran erinnern. Im Stillen dankte sie Mrs Smith, der Hebamme, für die Anweisungen, die sie ihr gegeben hatte, denn ohne diese und das Fahrgeld nach Brookwood wäre ihr eigenes Baby auch in einem Massengrab wie diesem hier gelandet.
Um die Mittagszeit unterbrachen die Totengräber ihre Arbeit für einen Imbiss und packten ihr mitgebrachtes, in Zeitungspapier gewickeltes Brot und Käse aus. Da sie sich unbeobachtet wähnen konnten, warfen sie das Papier, die Käserinde und die Apfelkerneungeniert in das ausgehobene Grab. (»Hast du das gesehen?«, raunte Grace empört ihrer Begleiterin zu, doch Jane schwieg beharrlich und starrte pflichtbewusst vor sich hin.) Nachdem die beiden Männer ihr derbes Mittagsmahl beendet hatten, verschwand einer im nahegelegenen Wirtshaus
Fox and Grapes
und kehrte kurz darauf mit einem Krug Bier zurück, das er, zur maßlosen Erheiterung des anderen, auf dem ausgegrabenen Totenschädel abstellte. Als der Krug geleert war, setzten sie ihre Arbeit fort: Das Loch war nun tief genug, die drei Leichname wurden hineingeworfen und mit Erde bedeckt, über die zuletzt noch etwas Kalk gestreut wurde. Dann machten sich die Totengräber auf ins Wirtshaus, um ihren Lohn zu verzechen.
Grace und Jane harrten weiter aus. Das Warten war nicht gerade angenehm, überlegte Grace, denn es bescherte ihr allzu viel Zeit, um sich in Sorgen über ihre Lage und vor allem die von Lily zu ergehen. Ihre Schwester war immer behütet worden, zuerst von Mama und dann von Grace, man hatte ihr wegen ihres einfachen Gemüts immer Nachsicht entgegengebracht und die harten Tatsachen des Lebens von ihr ferngehalten. Wer aber kümmerte sich nun um ihr Wohlergehen? Wurde sie bei den Unwins gut behandelt? Grace hatte Mrs Unwin mehrmals gefragt, wie sich ihre Schwester machte, jedoch als Antwort nur ein vages »So wie man es eben von ihr erwarten kann« erhalten oder eine Bemerkung wie: »Aus einem Ackergaulkann man kein Rennpferd machen«– Aussagen, die nicht gerade dazu angetan waren, Graces Besorgnis zu zerstreuen. Grace würde sich besser fühlen, wenn sie Lily einmal besuchen und sich selbst von ihrem Befinden überzeugen könnte, doch bisher hatte sich keine Gelegenheit geboten, das Haus in Kensington aufzusuchen. Die Unwins genehmigten ihren Angestellten zwar einen relativ freien Sonntag, erwarteten jedoch, dass sie diesen Tag dazu nutzen, in ein öffentliches Badehaus zu gehen, ihre Wäsche zu machen, ihre Strümpfe zu stopfen und Kleider zu flicken, ihre Trauerkleider auszubürsten und zu plätten und morgens und abends den Gottesdienst zu besuchen. Grace hatte sich überlegt, dass der Fußmarsch nach Kensington etwa eine Stunde dauern würde, und sich vorgenommen, am nächsten Sonntag in aller Frühe aufzustehen, bis zum nachmittäglichen Kirchgang all ihre Aufgaben zu erledigen und direkt nach der Messe nach Kensington aufzubrechen.
In den Wochen, die sie nun schon bei den Unwins arbeitete, hatte sie viel gelernt. Die ersten paar Tage war es ihr elend ergangen: Sie hatte sich mit den Gedanken an die jüngsten Ereignisse in ihrem Leben gequält und versucht, sich damit abzufinden, wie ihr Leben von nun an aussehen würde: Sie würde Lily vermissen, sie würde Tag für Tag lange und hart arbeiten – denn wenn es keine Beerdigung gab, an der sie teilnehmen musste, so war sie mit dem Nähen von Leichentüchern, Auskleiden von Särgen und Stickenvon Beerdigungsandenken beschäftigt; sie teilte sich ein winziges
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