Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
laut, während sie samt den anderen am Fenster stand und kopfschüttelnd beobachtete, wie Lily im Garten herumspazierte, an den Blumen schnupperte, duftende Kräuter zwischen den Fingern zerrieb und die Fülle an Gemüsen bewunderte, die in dem ummauerten Garten wuchs.
Es war traurig, dass sie nun von Grace getrennt leben musste, ging es Lily derweil durch den Kopf, aber Grace hatte ihr ja versprochen, dass es nicht für immer sein würde. Und, immerhin – was es hier alles zu essen gab! Die leuchtend roten Tomaten, die Kürbisse und Zwiebeln und die prallen weißen Blumenkohlköpfe – ganz zu schweigen von den Hühnern, die im Sand herumpickten. Jede Wette, dass hier nie jemand hungrig zu Bett ging! Da sie aus der Not heraus gewohnt war, zu essen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot, pflückte sie ein paar reife Blaubeeren und steckte sie sich in den Mund. Als Mrs Beaman kräftig an die Fensterscheibe klopfte, um sie zu ermahnen, blickte sich Lily zu ihr um, lächelte und winkte ihr zu.
»So eine Frechheit! Aus der wird nie im Leben ein Kammermädchen!«, stellte Mrs Beaman fest.
»Noch sonst irgendein Dienstmädchen!«, fügte Blossom hinzu.
»Jedenfalls nicht, solange sie nicht gebadet hat«, stellte Lizzie fest und schnüffelte noch einmal an der Stelle, wo Lily gestanden hatte und noch immer der Hauch eines fauligen Gestanks nach gekochten Tierknochen in der Luft hing.
Rose schaute Mrs Beaman an und dachte an die erst jüngst im Haus installierte luxuriöse Warmwasserdusche, das absolut Neueste, was es derzeit gab. »Ob sie wohl –«
»Nein, sie wird ganz gewiss nicht das neue Badezimmer benutzen«, erwiderte Mrs Beaman resolut. »Was für ein Gedanke!«
Rose verabschiedete sich und ging durch den Park zurück zum Geschäftshaus der Unwins, während im Wohnhaus die Diskussionen über die neue Dienstmagd fortdauerten. Nachdem Blossom verkündet hatte, dass sie sich unter keinen Umständen mit jemandem, der so übel roch wie Lily, im selben Raum aufhalten wolle, entschied Mrs Beaman, sie mit einem Penny aus der Haushaltskasse unter Ellas Aufsicht in die öffentliche Badeanstalt von Hammersmith zu schicken, wo sie so gründlich geschrubbt und desinfiziert werden solle, wie es dem Standard eines Dienstmädchens in einem gehobenen bürgerlichen Haushalt entsprach. Bevor die beiden loszogen, trieb Mrs Beaman noch ein paar alte Kleidungsstücke auf, die Miss Charlotte als hoffnungslos altmodisch abgelegt hatte, sowie ein paar alte Schuhe von ihr selbst, deren Sohlen fast vollständig durchgelaufen waren. Auf dieseArt hoffte Mrs Beaman, das Erscheinungsbild des neuen Dienstmädchens zumindest ein wenig zu verbessern und aufzuwerten, bevor es der Tochter des Hauses vorgestellt würde.
»Jetzt, wo sie frisch gewaschen ist, kann sie doch den Nachmittagstee reinbringen!«, drängte Blossom Stunden später die Haushälterin Mrs Beaman.
»Oh ja, bitte!«, sagte Lizzie und zwinkerte dabei Blossom zu. »Wollen wir doch mal sehen, was Miss Charlotte zu ihr zu sagen hat.«
»Ich weiß nicht«, sagte Mrs Beaman. Sie betrachtete zweifelnd Lily, die, obwohl frisch gebadet und neu eingekleidet, noch immer nicht so recht dem entsprach, was man sich von einer Angestellten eines gehobenen Haushalts erwartete.
Sie wirkte irgendwie unbeholfen: die komischen, entenartig abstehenden Füße, der abwesend ins Leere gerichtete Blick und das rotbraune Haar, das, obwohl dreimal gewaschen und mit einem Kamm bearbeitet, noch immer wie ein struppiger, zerzauster Wust aussah. Obendrein stand ihr die Farbe von Miss Charlottes abgelegtem Kleid überhaupt nicht: Das Pastellgrün schien Lilys gerötetes Gesicht noch hervorzuheben, das durch die scharfe Karbolseife aus der Badeanstalt nun erst recht knallrot leuchtete. Dennoch, als es aus dem Salon nach dem Tee läutete, stattete Mrs Beaman Lily kurzerhand mit einer weißen Schürze aus, drückte ihr das Tablett mit dem silbernenTeegeschirr in die Hände und führte sie ins Wohnzimmer, um sie Miss Charlotte Unwin vorzustellen.
Miss Charlotte war sechzehn Jahre alt und hatte dank eines Lebens in Luxus, Bequemlichkeit und Wohlstand die rosige Haut, die glänzenden Augen und üppigen goldblonden Haare, die man sich bei einem jungen Mädchen aus solchen Verhältnissen vorstellte. Außerdem hatte sie eine eigene Schneiderin und eine Garderobe aus den allerneuesten Kleidern und jedem erdenklichen modischen Kinkerlitzchen, auf das eine schicke junge Dame des
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