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Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Titel: Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Hooper
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wenn sie ihre Arbeit behalten wollte.
    Grace hielt den Kopf gesenkt, während im Gefolge des Sargs die Familie und Freunde des Verstorbenen die Kirche betraten. Eine große Anzahl von Leuten, die sich selbst für bedeutende Mitglieder der Gesellschaft hielten, war anwesend, denn der Verstorbene hatte seit seinem Ausscheiden aus der Armee als leuchtendes Beispiel eines guten Bürgers gegolten, hatte Wohltätigkeitseinrichtungen unterhalten, Heime für Bedürftige gegründet und sich sogar selbst in Gefahr begeben, indem er nachts in den Gassen von London Decken verteilte. Um Obdachlose und gefallene Frauen hatte er sich in besonderem Maße gekümmert, hatte unermüdlich daran gearbeitet, sie wieder in die Gesellschaft einzugliedern, sie manchmal sogar in seinem eigenen Haus aufgenommen, um ihnen eine Ausbildung zum Hauspersonal angedeihen zu lassen.
    Grace beobachtete unter gesenkten Lidern, wie die Trauernden in Zweierreihen die Kirche betraten: Die Damen, die ihren Schmerz so weit im Griff hatten, dass sie dem Gottesdienst beiwohnen konnten, trugen die neueste Trauermode aus Paris (weite Ärmel,enorme, ausladende Röcke über einer Krinoline aus Fischbein, blickdichte schwarze Schleier vom Kopf bis zu den Füßen). Die Männer waren auf ihre Art nicht minder modisch gekleidet, denn die Fachhändler für Trauerbekleidung wurden nicht müde zu versichern, dass es Unglück brächte, Trauerkleidung im Haus zu behalten; vielmehr sollte für jeden Trauerfall neue Kleidung gekauft werden. Auf diese Weise würden, so pflegte George Unwin zu sagen, die dunklen Wolken der Trauer versilbert.
    Als fast alle Trauernden die Kirche betreten hatten, erfasste Grace plötzlich ein seltsames, unangenehmes Frösteln. Als sie später darüber nachdachte, konnte sie nicht mehr genau sagen, welche Sinneswahrnehmung es nun eigentlich ausgelöst hatte. War es die Ahnung eines bestimmten Geruchs gewesen, ein eiskalter Finger, der ihr Rückgrat entlangfuhr, ein plötzlicher Schwindel oder einfach jenes Frösteln, das manchmal mit der Vorstellung beschrieben wird, es gehe jemand über dein Grab? Was auch immer es war, jedenfalls betrat die Person, die es offenbar ausgelöst hatte, als sie an ihr vorbeischritt, das Kirchenschiff und nahm in der letzten Bank Platz. Da nun alle Trauernden in der Kirche waren, konnte Grace es wagen, den Kopf zu heben und dorthin zu blicken: Sie sah den Rücken eines Mannes, der in seinen Fünfzigern sein mochte, in voller, makelloser Trauermontur gekleidet war, in einer lederbehandschuhten Hand ein Gesangsbuch hielt, in der anderen seinen Zylinder. Sie kannteihn nicht, und ihr fiel nichts an ihm auf, was ihn von den anderen Herren der Trauergemeinde unterschieden hätte.
    Vielleicht, so sagte sie sich, als die großen Türen des Kirchenportals zugingen, hatte sie es sich ja nur eingebildet   …
    Am Sonntag unternahm Grace, wie sie es geplant hatte, einen Spaziergang durch den Park nach Kensington und klopfte an die Hintertür des Unwin-Hauses. Sie hatte eine Weile überlegt, was sie anziehen sollte: Zwar war sie mit neuen schwarzen Stiefeln und den passenden Kleidern für eine Sargbegleiterin ausstaffiert worden (wobei die Kosten selbstverständlich von ihrem Lohn abgezogen worden waren), doch vermutlich wäre sie in schwarzem Schleier und Trauerhut auf der Straße allzu sehr angestarrt worden. Glücklicherweise war Rose so nett gewesen, ihr eine alte braune Samtjacke und einen dazu passenden Hut zu überlassen, und dies über einem schwarzen Oberteil und Krepprock getragen, sah nicht allzu sehr nach Beerdigung aus.
    »Die Mistress duldet keine Besuche beim Hauspersonal«, verkündete Mrs   Beaman und stand breitschultrig, die Arme vor der Brust verschränkt, im Türrahmen des Lieferanteneingangs. »Nicht ohne Erlaubnis.«
    »Ach bitte, könnten Sie um Erlaubnis fragen?«, bettelte Grace.
    »Kann ich nicht. Die ganze Familie ist ausgegangen.«
    »Aber ich bin Lilys Schwester.« Grace schaute Mrs   Beaman mit einem so flehentlichen Blick an wie zu den Zeiten, als sie, dem Verhungern nahe, versucht hatte, ihre Brunnenkresse an den Mann zu bringen. »Bitte, wenigstens einen Augenblick, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut geht! Wir waren noch nie vorher voneinander getrennt, und ich wäre Ihnen unendlich dankbar dafür.«
    Mrs   Beaman musterte Graces ernstes, schönes Gesicht (»Wie einer von diesen Engeln auf einem Denkmal«, berichtete sie Blossom später) und gab nach. »Na gut, aber nur zehn Minuten«,

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