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Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Titel: Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Hooper
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Zimmer mit Jane, besaß weder Privatsphäre noch ein eigenes Leben. Wenigstens musste sie sich aber keine Gedanken über die Miete machen, rief sie sich immer wieder in Erinnerung, oder darüber, woher das nächste Stück Brot kommen oder ob sie auf den Straßen von London erfrieren würde. Das Leben bei den Unwins war nicht auf dieselbe Weise hart, wie es ihr vorheriges Dasein gewesen war, mit der Drohung des Verhungerns, völliger Verarmung und schließlich des Arbeitshauses ständig vor Augen, sondern insofern, als sie vierzehn Stunden am Tag unter kläglichen Umständen arbeiten musste und niemanden hatte, den sie ihre Freundin nennen konnte.
    Auch ein Gefühl, das fast an Heimweh erinnerte, quälte sie. Das ergab zwar keinen richtigen Sinn, wo ihr letztes Zuhause doch nur ein kahles Zimmer in einem heruntergekommenen Haus gewesen war, in dem sie und Lily fast verhungert wären, doch »Heimweh« war das Wort, das ihrem Gefühl von Einsamkeit und völliger Besitzlosigkeit am nächsten kam.
    Und an allem war dieser Mann schuld, das wusste sie mit Gewissheit. Der Mann mit nur einer Hand, der des Nachts gekommen war und alles zerstört hatte. Wäre dies nicht geschehen, so wäre sie nicht aus dem Heim weggelaufen; sie wäre mit Lily dortgeblieben, hätte ihre Ausbildung zur Lehrerin abgeschlossen und vielleicht irgendwann eine passable Heirat machen können. Nun aber war solch ein angenehmes,ganz normales Leben in weite Ferne gerückt, und die Zukunft lag düster vor ihr. Denn sie war eine gefallene Frau, und das würde sie immer bleiben.
    Durchgefroren und müde von dem langen Stehen, wackelte Grace in ihren billigen schwarzen Stiefeln mit den Zehen, um sie ein wenig warm zu bekommen.
    »Ist dir nicht kalt?«, fragte sie Jane, die nach wie vor reglos wie eine Statue neben ihr stand. »Sehnst du dich nicht auch danach, vor einem schönen Kohlenfeuer zu sitzen?«
    Jane starrte stur geradeaus.
    »Oder unter einem Schirm in der Sonne?«, fuhr Grace schonungslos fort. »Oder in einem Boot über einen See gerudert zu werden, mit einem Picknickkorb neben dir? Oh, bitte, sag was! Sag doch mal was!«
    Janes Antwort bestand darin, dass sie ihren Gesichtsausdruck ein winziges bisschen veränderte und zur Straße hin nickte, wo das Geräusch langsam rollender Wagenräder auf Kies und ein dumpfer Trommelschlag das Nahen des Leichenzugs ankündigten. Ganz vorn, direkt vor den berittenen Sargbegleitern, erschien Mr   George Unwin, einen reiterlosen Hengst am Zügel führend; in den Steigbügeln steckten umgedrehte Lederstiefel als Symbol für das Ableben des Reiters. Hinter den Sargbegleitern folgten mehrere leere Kutschen, die einflussreichen Familien gehörten; da diese Leute gerade außerhalb von Londonweilten, hatten sie als Zeichen der Ehrerbietung ihre Landauer geschickt.
    Als der Sarg in der Kutsche an ihnen vorbei ins Kircheninnere fuhr, fiel Grace der sorgfältig gefaltete Union Jack über dem mit edlen Fransen verzierten Sargtuch auf, und darauf der gefiederte Dreispitz des hochrangigen Verstorbenen, der Teil seiner Amtskleidung als Bürgermeister von London gewesen war, als er dieses Amt einige Jahre vorher innegehabt hatte. Die Familie hatte angeordnet, dass der Hut und die Flagge zusammen mit dem Sarg beerdigt würden, doch Grace arbeitete inzwischen lange genug bei dem Bestatter, um zu wissen, dass diese Dinge dem Grab auf wundersame Weise entgehen würden, um beim nächsten bedeutenden Begräbnis ihre Auferstehung zu feiern – gegen Bezahlung selbstverständlich, denn beide Gegenstände waren von beträchtlichem Wert.
    Diese heimlichen Machenschaften überraschten Grace nicht. Die Unwins waren Gauner, allerdings nicht mehr oder weniger als all die Taschenspieler mit ihren gezinkten Karten, die Pfandleiher, die Vogelfälscher oder Kinderräuber, die die Innenstadt von London bevölkerten. Sie führten also ihren Kunden edelstes Mahagoni für den Sarg vor und verwendeten heimlich billiges Spanholz – und wennschon? Wen störte es, wenn die Namensplaketten am Ende aus Zinn waren anstatt aus dem verabredeten Silber? Was für eine Rolle spielte es, wenn sie den Leichnam entkleideten und ihm seine goldene Uhr abnahmen,anstatt ihn, wie von seinen liebenden Angehörigen gewünscht, in seiner schicken Abendgarderobe zu beerdigen? Das war nicht ihre Angelegenheit, sagte sich Grace. Sie konnte sich nicht auch noch um reiche Leute Gedanken machen, die genug Geld besaßen, um es für prunkvolle Beerdigungen auszugeben. Nicht,

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