Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Leichen, die dort unten auf ihre Beerdigung warteten. In ihrer erstenWoche bei den Unwins hatten zwei eifersüchtige Näherinnen, die befürchteten, Grace werde ihnen bei den Stallburschen den Rang ablaufen, sie über Nacht mit zwei Leichen in dem Kellerraum eingesperrt. Sie hatten gehofft, Grace werde hysterisch reagieren. Doch Grace hatte sich die beiden Leichname ganz ruhig angesehen, hatte an den zwei alten Damen, die friedvoll eingeschlafen waren, nichts Beunruhigendes gefunden und sich einfach auf dem Boden schlafen gelegt. Und Grund zur Eifersucht gab sie den anderen sowieso nicht, da sie auf die Neckereien der Stallburschen gar nicht einging und die meiste Zeit für sich allein blieb. Sie vergaß keinen Augenblick, dass sie ein gefallenes Mädchen war.
Jetzt fädelte sie ihren Faden in die Nadel, rückte ihren Hocker so gut es ging in das Licht, das durch das kleine Fenster hereinfiel, und begann, mit fein säuberlichen, dichten Federstichen den Stamm der Weide zu sticken. Die Blätter würde sie mit winzig kleinen Kettenstichen machen und den Block des Grabsteins mit dichten Steppstichen. Gott sei Dank hatte Mrs Unwin zum Namenszug des Mannes nein gesagt! Obendrein hatte die Witwe bereits zwei Flechtarmbänder aus dem Haar ihres verstorbenen Gatten anfertigen lassen sowie ein Ölgemälde, das nach seinem Tod gemalt worden war. Das sollte doch wohl jedem an Andenken reichen, fand Grace.
Es dauerte fast den ganzen Tag, doch am späten Nachmittag hatte Grace die Stickarbeit für die Broschefertig und erhielt eine neue Aufgabe: die Initialen des Mannes auf sein Sargkissen zu sticken. Mit weißem Garn auf weißem Leinen zu sticken war zwar weit weniger ermüdend als Stickarbeiten mit menschlichem Haar, doch WWHB waren lauter ziemlich große Initialen, und als die Dämmerung hereinbrach und die Kerze heruntergebrannt war, wurde auch das Weiß auf Weiß zu einer mühseligen Angelegenheit, und Grace wünschte sich sehnlichst, der Name des Leichnams hätte nicht gar so viele ausgefallene Buchstaben.
Um kurz nach acht war sie endlich auch mit dieser Aufgabe fertig. Um diese Zeit ging sie gewöhnlich in die Küche, wärmte sich einen Teller Suppe auf und aß Brot und Käse dazu. Oder sie ging gleich auf das Zimmer, das sie sich mit Jane teilte, und legte sich, nachdem sie sich gewaschen und ihre persönlichen Dinge erledigt hatte, sofort schlafen. An diesem Abend, nach den vielen Stunden, die sie eingesperrt im Haus verbracht hatte, zog es sie jedoch noch nach draußen, und so verließ sie das Unwin-Gebäude, um noch ein wenig in Richtung Edgware Road zu schlendern, sich im Zwielicht der Dämmerung an der Abendluft zu erfrischen und das lärmende, hupende, wiehernde Spektakel des Verkehrs zu bestaunen.
Während sie so dastand, konnte sie dabei zusehen, wie sich das vor Fahrzeugen wimmelnde Netz von Straßen rund um den Triumphbogen im Feierabendverkehr verstopfte – was recht häufig vorkam – undsämtliche Gefährte stehen bleiben mussten. Eine elegante Kutsche kam direkt vor ihr zum Stehen: Die vier Pferde stampften ungeduldig, und ihr Atem bildete Dampfwolken in der kalten Luft. Vor und hinter der Kutsche gingen Diener in purpurroter Livree einher, die Kutsche selber war mit vier Messinglaternen beleuchtet und ihr schwarzer Lack glänzte so makellos, dass Grace sich darin spiegeln konnte. Die Tür zierte eine Art Schild, und Grace beugte sich ein wenig vor, um es genauer zu betrachten. Als sie darauf einen Löwen und ein Einhorn erkannte, ging ihr plötzlich mit heftigem Herzklopfen auf, dass sie gerade das königliche Wappen vor Augen hatte.
Erstaunt richtete sie sich auf, schaute gespannt zum Fenster der Kutsche hinein und sah, auf den brokatbezogenen Bänken der Kutsche einander gegenübersitzend, das berühmteste Königspaar der Welt, Königin Viktoria und Prinz Albert (es bestand kein Zweifel, dass sie es waren, denn Grace hatte schon oft Abbilder der beiden auf Stichen und Ölgemälden bewundert). Viktoria schien etwas auf ihrem Schoß zu betrachten, doch Prinz Albert hatte den Blick auf die dämmrigen Straßen hinausgerichtet.
Graces Blick begegnete dem von Prinz Albert, und sogleich sank sie in einen tiefen Knicks. Als sie sich wieder erhob, sah sie, wie er ihre Geste mit einem Kopfnicken quittierte und sie anlächelte. Sie wurde tiefrot, und da sie nicht wusste, was sie nun tun sollte, knickste sie erneut, und während ihr Knie noch gebeugtwar, löste sich der Stau und die königliche Kutsche
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