Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
eigentlich an Wollwatte.«
»Auf keinen Fall!«, rief Mr Unwin aus.
Grace stand in Sargbegleiterinnenpose, mit zum Gebet gefalteten Händen und gesenkten Lidern, und zeigte mit keiner Regung, dass sie auch nur ein Wort davon aufgenommen hatte oder überhaupt ein lebendiges Wesen war. Es war eine Woche nach ihrem Besuch bei Lily in Kensington, und sie war in den roten Salon gerufen worden, um einer Kundin vorzuführen,welche Art von Sargbegleiterin für eine teure Beerdigung erhältlich war.
»Schwanendaunen sind natürlich teuer«, stimmte Mrs Unwin ein, »aber das ist ja auch beruhigend zu wissen, denn man will ja nur das Allerbeste für seine ehrenwerten Eltern, Gott hab sie selig, nicht wahr?«
Die Antwort war ein Seufzer. »Nun, wenn Sie es für notwendig erachten«, sagte die Frau.
»Schwanendaunen also«, hielt Mr Unwin fest.
Sie blieben vor Grace stehen. »Haben Sie sich schon über Sargbegleiter Gedanken gemacht?«, fragte Mrs Unwin.
»Nun, eigentlich nicht … «
»Das ist Grace, eine unserer pietätvollsten und in sich gekehrtesten Sargbegleiterinnen. Sie kann stundenweise zur Verfügung gestellt werden und mit einem Ausdruck von Verlust und tiefer Trauer vor einer Tür oder am Grab Totenwache halten.«
»Das ist doch bestimmt nicht … «
»Grace würde sich besonders gut am Grab einer älteren Dame ausnehmen«, sagte Mrs Unwin. »Das würde einen ganz besonders fürsorglichen Eindruck machen.«
»Nun … «
»Und als Ergänzung zu Grace hätte Ihre werte Mutter sicherlich gerne einen Monat lang eine Kerzenlaterne auf ihrem Grab brennen«, fügte Mr Unwin hinzu.
»Aber wem bringt denn das etwas?«
»Ihrem
Andenken
«, fiel Mrs Unwin in sanft mahnendem Ton ein. »Vergessen Sie nicht, dass alte Menschen die Dunkelheit nicht mögen.«
Und so ging es weiter, bis Grace, nachdem Sargbegleiter, Grabstein und Gebinde endlich ausgesucht waren, in das kleine Nähzimmer zurückkehren durfte, Hut und Schleier ablegte und ihren Stuhl vor das kärgliche Feuer rückte.
Wie rasch man sich doch an alles gewöhnt, ging es ihr durch den Kopf, während sie ihre Stickarbeit von vorhin wieder aufnahm. Wie rasch sie sich damit abgefunden hatte, ohne Lily zu leben, ihr Zimmer mit einer Fremden zu teilen, in den Mauern dieses Gebäudes eingesperrt zu sein und ihr Leben in einer abfolge von genähten Sargtüchern, besuchten Beerdigungen und fertiggestellten Stickarbeiten zu messen. Wobei das Seltsame daran war, dass sie dieses Leben zwar lebte und sich zunehmend daran gewöhnte, jedoch ständig das Gefühl hatte, es sei gar nicht ihr eigenes, sondern das einer Person, deren Identität sie versehentlich angenommen hatte. Was würde wohl noch geschehen? Wann würde ihr neues Leben beginnen – das, welches sie sich an jenem Tag im Zug nach Brookwood versprochen hatte?
Sie nahm ihre Handarbeit wieder auf. Heute musste sie ein winziges Bild aus menschlichem Haar sticken, mit einer Nadel so fein, dass man sie nicht mehr finden würde, wenn man sie auf der Werkbank ablegte. Das Bildchen sollte einen Grabstein unter einer Trauerweidezeigen und würde in einen kleinen Goldrahmen gesteckt und als Brosche getragen. Die Kundin hatte auch noch den Namen ihres verstorbenen Gatten auf dem gestickten Grabstein haben wollen, doch Mrs Unwin hatte eingewandt, dass dies unmöglich sei, denn der Verstorbene hieß William Wilkins-Boyes-Haig, und selbst wenn jemand diesen Namenszug so winzig hätte sticken können, so wäre er bestimmt nicht mehr lesbar gewesen.
Ehe Grace die Nadel ansetzte, blickte sie sich um und staunte wieder einmal über das enorme Ausmaß des Unwin-Reiches. Durch die verglaste Tür sah sie den Eingang zur Sargtischlerei, wo neben den Tischlern auch noch ein Graveur arbeitete, der die Sargplaketten aus Messing oder (den anspruchsvolleren Kunden dringend empfohlen) aus Silber verzierte. Rechts davon befand sich eine ganz neue Werkstatt mit einer langen Werkbank, an der Mrs Unwin, seit sie entdeckt hatte, welch ein Geschäft mit Trockenblumen zu machen war, einigen Arbeiterinnen zeigte, wie man Immortellen bastelte. Draußen im Hof hörte man die Steinmetze klopfen, und dahinter befand sich eine Schmiede samt Hufschmied und Stallburschen. Unweit von Graces Sitzplatz führte eine Treppe in einen kühlen, abgeschlossenen Raum hinunter, den man hier Gottes Wartesaal nannte. Zwar wurden Verstorbene üblicherweise bei sich zu Hause aufgebahrt, aber meist gab es doch ein oder zwei
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