Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
für fünf Meilen Weg bis Waterloo gut und gerne zwei Stunden brauchen konnte, so dass manche Leichen den Zug und damit ihre eigene Beerdigung verpassten. Deshalb bestand die Nekropolis-Gesellschaft nun darauf, dass alle Leichname, die in Brookwood beigesetzt werden sollten, bereits am Vorabend abfahrbereit am Bahnhof standen.
Grace war schon einmal im Inneren der Sarghalle gewesen, wusste also, was sie zu erwarten hatte. Was sie allerdings nicht wusste, war, ob Sylvester Unwin vor ihr angekommen war. Wenn ja und wenn er dieUrkunde bereits an sich genommen hatte, dann hatte sie verloren. Wenn nicht, so gab es noch Hoffnung.
Das Eisentor zu der Lagerhalle war so breit, dass die Sargträger nebeneinander mit einem Sarg auf den Schultern bequem hindurchkamen, und so kostete es Grace einige Kraft, es aufzuschieben. Die Särge lagen reihenweise drei Etagen hoch auf stabilen Regalen, ganz ähnlich wie im Sargwaggon des Nekropolis-Zugs. Es gab ungefähr dreißig Särge, die bei den verschiedenen Bestattern in und um London eingesammelt worden waren, sowie zwei leere, die, wie Grace wusste, für Verkehrsopfer oder Leichen, die aus der nahen Themse gefischt wurden, bereitgehalten wurden. Ein paar Laternen brannten zu Ehren der Toten, doch insgesamt war es ziemlich düster in der Halle, denn Besucher waren hier keine zu erwarten.
Grace zitterte vor Kälte, als sie die Halle betrat, da die Feuchtigkeit des Nebels und des Themsewassers ihre Kreppkleidung durchdrungen hatte, so dass der schwere Stoff ihr klamm auf der Haut klebte. Sie blickte sich rasch um und stellte fest, dass keine lebende Person vor Ort war, und es sah auch nicht so aus, als wäre bereits ein Sarg geöffnet worden: Jedenfalls lag kein Sargdeckel auf der Seite. Vielleicht war sie ja tatsächlich als Erste da.
Hastig schritt sie die Sargreihen ab, ließ den Blick nach oben und unten wandern und versuchte angestrengt, in dem Dämmerlicht die Messingschildchen zu lesen. Von dem flüchtigen Blick, den sie bei denUnwins auf das Namensschild geworfen hatte, konnte sie sich nur noch erinnern, dass es sich um einen Doppelnamen gehandelt hatte – und davon gab es drei. Allerdings war einer der Leichname eine Frau und auf einem anderen Sarg lag eine zusammengefaltete Flagge, ein Zeichen, dass der Verstorbene ein Offizier der Armee gewesen war. Bei den Unwins hatte sie keine solche Flagge entdeckt, also musste der gesuchte Sarg der dritte sein, der von Mr Trescot-Divine, ganz am Ende der Halle auf dem obersten Regal.
Grace stellte sich auf die Zehenspitzen und holte gerade tief Luft, um die Hand in den Sarg zu stecken. In diesem Augenblick vernahm sie voller Entsetzen von draußen die Stimme Sylvester Unwins. Er klang höchst verärgert, da er bis zur London Bridge hinauf hatte fahren müssen, um den Fluss zu überqueren.
»Mach auf, Wachmann, und zwar rasch!«
»Wer ist da?«, kam die Antwort.
»Unwin! Ich habe eine verspätete Beigabe zu einem Sarg, der morgen nach Brookwood geht.«
Da dies nicht weiter ungewöhnlich war – manchmal wollte eine trauernde Witwe ihrem verstorbenen Gatten noch einen letzten Brief oder dergleichen ins Grab mitgeben –, erklang gleich darauf ein scharrendes Geräusch, als das äußere Tor geöffnet wurde. Inzwischen rannte Grace wie ein gefangenes Tier in Panik zwischen den Särgen hin und her und suchte vergeblich nach einem Versteck. Außer den Sargregalenwar die Halle vollkommen kahl, und das Tor, durch das sie gekommen war, war der einzige Ein- und Ausgang. Nicht einmal ein Fenster gab es, durch das sie hätte entwischen können.
Und dann fielen ihr die zwei leeren Särge wieder ein. Sie waren unschwer auszumachen, da sie nur als Provisorium gedacht und aus billiger Wellpappe gefertigt waren, und standen gleich beim Eingang auf dem untersten Regal. Hastig rannte Grace zum nächstbesten der beiden Särge, kletterte hinein und zog den Deckel über sich zu. Dann lag sie in vollkommener Dunkelheit da und versuchte, sich nicht zu rühren, nicht zu zittern, ja, nicht einmal zu atmen.
Einen Augenblick herrschte Stille, dann kam Sylvester Unwin mit einer hochgehobenen Laterne polternd durch das Tor herein. Er blickte sich einen Moment lang um. Natürlich konnte Grace ihn nicht sehen, doch sie spürte seine Nähe genau so wie bereits bei anderen Gelegenheiten: weil seine physische Präsenz ihr eine Angst einflößte, von der ihr ganz schwach und übel wurde.
Vielleicht war es diese furchtbare Angst, die sie so verwegen
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