Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
helfen.
Als sie sich der Strand näherte, musste sie eine Entscheidung treffen: Waterloo und der Nekropolis-Bahnhof befanden sich auf der anderen Flussseite, und sie wusste nicht, ob sie versuchen sollte, ein Fährboot zu ergattern oder die Hungerford Bridge anzusteuern, die noch ein Stück weit weg war. Diese kleine Eisenbrücke war jedoch vor kurzem von einem Konsortium aufgekauft worden, das sie als Eisenbahnbrücke nutzen wollte, und Grace wusste nicht, ob sie für Fußgänger noch geöffnet war. Wenn sie hinging und die Brücke gesperrt vorfand, so müsste sie ein langes Wegstück bis zur London Bridge hinunter zurücklegen, was sie ein beträchtliches Maß an Zeit kosten würde. Nach einem quälenden Moment des Abwägens ging sie schließlich zum Flussufer hinunter, um zu sehen, ob irgendwelche Fährboote verkehrten.
Wie sie fast befürchtet hatte, gab es keine. In ihrer wachsenden Panik steuerte sie die Hafenkneipe Sailor’s Rest an, um nach einem Fährmann zu suchen. Dort saßen auch gut ein Dutzend oder mehr derselben beisammen und »ruhten sich aus«, allesamt sturzbetrunken. Sie ging von einem zum anderen und fragte, ob einer gewillt wäre, sie in einer Angelegenheit auf Leben und Tod über den Fluss zu setzen, stieß jedoch durchweg auf Ablehnung und dazu noch auf jede Menge Spott und Gelächter, und so sah sie sich in ihrer Verzweiflung bereits zur London Bridge hinuntereilen, als ein Fährmann, jünger als die anderen und noch nüchtern genug, um sich von einem hübschen Gesicht erweichen zu lassen, schließlich einwilligte, sie für zwei Shilling überzusetzen.
»Wobei … ob wir da drüben auch ankommen, kann ich dir nich versprechen«, sagte er leicht lallend.
»Wenn doch, gebe ich dir noch einen Shilling extra«, sagte Grace skrupellos und dankte im Geiste James Solent für das Geld, das er ihr geliehen hatte.
»Umso besser. Und wenn uns ein Lastkahn über den Haufen fährt, dann ham wir eben Pech gehabt.« Er lachte rau. »Obwohl, ich hab heute so ’n gutes Gefühl in meinen Eingeweiden, ich glaube, wir werden’s überleben.«
Grace war inzwischen bereit, alles zu riskieren. Entweder sie würden trotz des Nebels heil über den Fluss kommen, oder sie würden von einem Kanalboot überfahren. Entweder sie würde sich die Urkundezurückholen, über die Unwins triumphieren und Lily finden, oder eben nicht. Es lag alles in der Hand des Schicksals.
Sie kletterte in das Boot, zog sich das weiße Musselintuch fest vor Mund und Nase und schloss die augen. Mit einem kräftigen Stoß, der das Boot heftig hin und her schaukeln ließ und eine Ladung stinkendes Flusswasser über ihre Kleider spritzte, legten sie ab.
Die Taktik des Fährmanns, anderen Booten auszuweichen, bestand offenbar darin, den Kopf einzuziehen und so schnell zu fahren, wie er konnte, indem er mit kurzen Schlägen seiner schweren Ruder das Wasser aufpeitschte.
»’s Beste ist, ich fahr wie der Teufel«, sagte er zu Grace. »Und wenn’s kracht, bin ich im Nu wieder weg.«
Grace hatte solche Angst, dass sie die ganze Zeit die Augen geschlossen hielt, und so entging ihr der Anblick der anderen zwei Boote, die auf dem Wasser unterwegs waren: ein riesiger Lastkahn mit Kohlen, der so gewaltig und unantastbar war, dass er sich nicht um das Wetter scherte, und das kleine Fischerboot eines alten Mannes, der Tag und Nacht, ob Nebel oder nicht, den Fluss abruderte und im Wasser nach Leichen suchte, um ihnen die Kleider abzunehmen.
Nachdem sie heil am anderen Ufer angekommen waren und Grace den Fährmann bezahlt hatte, fandsie den Weg zur Westminster Bridge Road recht rasch, verlief sich nur einziges Mal und hatte dabei das Glück, auf einen Polizisten zu stoßen, der mit einer Laterne an der York-Road-Kreuzung stand und all jenen den Weg wies, die sich verirrt hatten. Schließlich erreichte sie den Bahnhof Waterloo. Vor dem kunstvollen Eisengitter stehend, das den Eingang zur Nekropolis-Bahn zierte, sah sie im Schalterhäuschen einen Mann sitzen, der mit Schreibarbeiten beschäftigt war. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch nur eintreffenden Leichenwagen, und so bemerkte er nicht, wie Grace durch das Eisentor hineinhuschte.
Die Sarghalle war ursprünglich ein normales Lagerhaus für Frachtgüter gewesen, das erst später zu einer Aufbewahrungshalle für Särge umgebaut, frisch gestrichen und mit den entsprechenden Vorrichtungen ausgestattet worden war. Dies war nötig geworden, da wegen des allmorgendlichen Londoner Verkehrs ein Sarg
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