Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
durch die Düsternis zu spähen. Der Nebel hatte sich richtiggehend zusammengeballt und sah an manchen Stellen dichter aus als an anderen, mal grau, dann schlammig braun und dann wieder von einem dicken, fauligen Grün. Vereinzelt brach ein dünner Sonnenstrahl durch und verwandelte ihn in fahles Gelb. Doch egal, von welcher Farbe er war, er machte einen nahezu blind, hing an den Kleidern, drang einem in die Glieder und kühlte einen bis ins Mark aus.
»Bis vor ’ner Stunde war hier alles in Butter – und dann kam’s vom Fluss herauf. Die reinste Waschküche«, berichtete der Kutscher.
»Rede weiter, damit ich dich finden kann!«, rief Sylvester Unwin.
»Hier, Sir! Direkt vor Ihnen!«, rief der Kutscher mehrmals, und schließlich berührte Sylvester Unwins ausgestreckte Hand die Seitenwand der Kutsche. Er hievte sich auf den Sitz neben dem Kutscher.
»Verfluchter Nebel! Verfluchte Stadt!«
»Wohin möchten Sie fahren, Sir?«
»Waterloo Station. Und zwar schnell«, erwiderte Sylvester Unwin.
»Also, was schnell angeht, weiß ich nicht so recht, Sir«, wandte der Kutscher zweifelnd ein. Er zog sich seinen Schal über die untere Gesichtshälfte, so dass er als eine notdürftige Maske zum Atmen diente. »Und ich kann mir nicht vorstellen, dass heute Abend Züge verkehren. Nicht in der Suppe.«
»Ich will auch keinen Zug erreichen«, knurrte Sylvester Unwin. Er holte tief Luft und musste sofort husten. »Spar dir dein Geschwätz und bring mich verdammt noch mal so schnell du kannst dorthin.«
»Wollen Sie für einen Fackeljungen bezahlen?«, fragte der Kutscher, denn er sah ein Stück weit vor ihnen ein paar Jungen brennende Fackeln schwenken, mit denen sie vor Fahrzeugen hergingen, um ihnen den Weg auszuleuchten.
»Hol zwei«, kam die Antwort. »Aber bring mich verdammt noch mal da hin.«
»Sehr wohl, Sir! Fackel! Fackel!«, rief der Kutscher in die undurchdringliche Dunkelheit hinein, doch die nächststehenden Jungen waren schon vergeben, und nachdem Sylvester Unwin ihn angeschnauzt hatte, dass er ihn gleich eigenhändig erwürgen werde, wenn er jetzt nicht endlich losfuhr, ließ der Kutscher seine Peitsche knallen.
Das Pferd setzte sich gehorsam in Bewegung, konnte jedoch in dem Nebel auch nicht mehr sehen als die Menschen, und so stolperte das Tier schon nach wenigen Schritten über eine Holzkiste, die jemand mitten auf dem Fahrdamm hatte liegen lassen. Das Pferd hielt sich zwar auf den Beinen, hatte sich jedoch die vordere Fessel verletzt und die Orientierung verloren – genau wie der Kutscher. Es irrte umher, nahm einen falschen Abzweig und versuchte schließlich völlig verwirrt eine rutschige Marmortreppe zu einem Hauseingang emporzusteigen.
»Du Idiot!«, brüllte Sylvester Unwin, als die Räder der Kutsche an der untersten Stufe hängen blieben. »Was glaubst du eigentlich, was du da machst?«
»Ich kann nicht das Geringste sehen, Sir!«, entschuldigte sich der Kutscher. »Das ist der schlimmste Nebel, der mir je begegnet ist.«
»Na, und wennschon. Kehr um auf die Straße zurück und fahr endlich los. Besorg dir zwei Fackeljungen! Zahl ihnen von mir aus das Doppelte!«
Begleitet von den ständigen Flüchen und gebrüllten Anweisungen Sylvester Unwins und immer wieder stockend und stehend, arbeitete sich die Kutsche langsam auf ihr Ziel zu, jenes Gebäude, das unter den Mitarbeitern der Nekropolis-Bahn nur als das Leichendepot bekannt war.
Grace brach erst ganze zehn Minuten nach Sylvester Unwin auf, zum einen, weil sie sich nicht aufraffen konnte, die relative Sicherheit des Unwin-Geschäftshauses zu verlassen, zum anderen, weil sie sich zutiefst vor einer erneuten Begegnung mit dem Mann fürchtete, der ihr all das angetan hatte. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, das Böse, das von ihm ausging, könne ihr nach wie vor zur Bedrohung werden.
Als sie dann aber an Lily dachte und in welcher Lage sich ihre Schwester wohl gegenwärtig befand, brachte dieser Gedanke Grace schließlich zum Handeln. Durch das Fenster sah sie den dichten Nebeldraußen, holte sich ein Stück weißen Musselin und band ihn sich als Filter gegen die feuchte Luft vors Gesicht, denn sie konnte sich noch daran erinnern, wie Mama ihr eingeschärft hatte, dass es gefährlich für die Lungen sei, bei dichtem Londoner Nebel nach draußen zu gehen. Nachdem sie so gerüstet war, stellte sich jedoch die Frage, wie sie aus dem Haus kommen sollte. Sollte sie sich bei den Unwins entschuldigen, ihnen erzählen, sie fühle
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