Gehetzt - Thriller
Zuhause ihrer Eltern geblieben und auf eine Eliteuniversität gegangen wäre, wie ihre Eltern es gewollt hatten - und zwar einzig und allein aus dem Grund, wie sie ihr versichert hatten, weil sie wollten, dass sie glücklich würde -, ob sie dann also vielleicht genau jetzt in ihrer Küche sitzen und auf ihre Kinder warten würde, die aus der Schule kämen. Sie hatte gesehen, wie die Frauen aussahen, die nach einem Besuch von ihren Kindern aus dem Besuchsraum zurückkamen. Ein absolut seltsamer Mix aus Glück und Verzweiflung lag dann in ihren Augen. Einige waren voller Geschichten von zu Hause und brannten darauf, von den Erfolgen ih rer Kinder zu er zählen, andere verfielen in trauriges, kaltes, einsames Schweigen, sobald sie aus dem Besuchsraum zurückkamen.
Sie starrte die Unterseite des Bet tes über sich an. Gail hatte mitange sehen, wie der Krieg ge gen Drogen immer mehr Frauen in die Ge fängnisse brachte. Auch junge Frauen. Fast immer Kurierinnen, meistens aus törichter Liebe. Die meisten wurden einfach nur ausgenutzt. Wie Rhonda das Wiesel. Festgenommen für den Besitz von drei Gramm Kokain, als sie neunzehn war. Drei mickrige Gramm. Und dann noch einmal mit sechsundzwanzig für den Besitz einer halben Unze. Beim letzten Mal hatten sie Rhonda mit einer Unze erwischt, sie aber locker in Verbindung zu einer Aktion gebracht, bei der es um etliche Kilos gegangen war. Den Staatsanwalt hatte nicht geschert, dass Rhonda nicht in irgendeine Aktion involviert gewesen war, sondern nur mit ei nem der Dealer zusammen gewesen war oder viel leicht auch nur Sex ge gen Koks getauscht hatte. Drei Tref fer, und Rho nda war raus aus dem Spiel. Es spielte keine Rolle, dass die Gesamtmenge der Drogen, mit de nen sie sie erwischt hatten, nicht einmal ausgereicht hätte, die Hemdtasche der Uniform eines kolumbianischen Generals zu füllen. Rhonda das Wiesel hatte
das obligatorische Lebenslänglich ohne Aussicht auf Bewährung bekommen. Selbst der Richter hatte das Strafmaß nicht individuell variieren können. Warum also nicht mit den Aufsehern bumsen? Schlaf mit ih nen, und sie geben dir Kokain oder Hasch oder gutes Essen und se hen weg, wenn du an einem späten Samstagabend zusammen mit den Mädels ein bisschen abschaltest und dir ein Gläschen Fusel hinter die Binde kippst. Gail verstand, warum Rhonda die Dinge tat, die sie tat. Wenn nicht irgendein Wundergesetz erlassen wurde oder irgendein herumvögelnder Präsident die Eier haben würde, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen, würde Rhonda im Knast sterben. Hier oder in irgendeiner anderen Zelle, irgendwo in dem riesigen Gulag des exponentiell wachsenden US-amerikanischen Strafvollzugsystems.
Gail setzte sich auf und warf die Decke ab. Scheiße. Manchmal war es niederschmetternd, direkt neben so einem Fall zu leben. Sie musste hier raus. Unbedingt. Aber erst morgen. Zumindest glaubte das Mel, und das war schon mal was. Bisher hatte er das noch nie ge glaubt. Schon beim ersten Mal hatte Gail versucht, ihre Scham, ihre Wut und ihre Selbst zwei fel unter Kontrolle zu halten, und morgen würde sie sich noch mehr zusammenreißen. Aber man konnte ihr nicht vorwerfen, dass ihr die bevorstehende Anhörung zu schaffen machte. Achtzehn Jahre sind eine lange Zeit, wenn man in einem zweieinhalb mal drei Meter großen Raum lebte, in dem drei Wände aus Schlackenstein bestehen und die vierte aus stählernen Gitterstäben. Verdammt viel länger als eine halbe Stunde für ein kleines Mädchen im Kindergarten, das absolut reglos mit dem Kopf auf dem Tisch dasitzen und so tun muss, als ob es schläft.
Gail drehte sich auf den Bauch, zog die Decke wieder über ihre Schultern und achtete sorgfältig darauf, dass die kratzige Wolle weder ihr Gesicht noch ihren Nacken berührte. Sie
trug ein T-Shirt und Boxershorts, Kleidung aus den Gefängnisbeständen. Direkt nach ihrer Einlieferung war es den Häftlingen noch gestattet gewesen, sich zweimal im Jahr Kleiderpakete von zu Hause schicken zu lassen. Jetzt nicht mehr. Zivilkleidung war verboten worden. Sie trugen Abgetragenes und Aus rangiertes der Ar mee und der Air Force. Gail war lange genug da, um eine dieser dicken, grünen, seidenen Bomberjacken mit der orangefarbenen Innenfütterung ergattert zu haben, die im Winter so schön mol lig waren. Sie wärmten einen besser als die Seemannsjacken. Gail hatte außerdem eine Tasche aus demselben Stoff, groß und klobig, aber mit ei ner langen Trageschlaufe, die sie sich wie einen Ranzen über
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