Gehirnfluesterer
Psychopathen und Nicht-Psychopathen gibt, leitet sich aus der klinischen Diagnostik
ab, meistens mit einem forensischen Hintergrund. Sie setzt standardisierte psychometrische Bewertungsmethoden ein. In den
angelsächsischen Ländern erfolgt die Diagnose psychopathischer Erkrankungen sowohl in der klinischen Praxis wie in der forensischen
Psychologie mit Hilfe der »Psychopathy Checklist-Revised« (PCL-R). Das ist ein Fragebogen, den der kanadische Psychologe Robert
D. Hare entwickelt hat. Die PCL-R beurteilt Menschen nach einer Reihe von Eigenschaften, zu denen auch Charme, Überzeugungskraft,
Furchtlosigkeit und der Mangel an Empathie oder Schuldgefühlen gehören. Die Ergebnisse des Fragebogens werden in eine Vierzig-Punkte-Skala
übertragen. Die Mehrheit der Bevölkerung rangiert in dieser Skala bei vier oder fünf. Dreißig Punkte gelten im Allgemeinen
als die Stufe, ab der von Psychopathie beziehungsweise von Psychopathen zu sprechen ist.
In klinischen Einrichtungen schießen die »hauseigenen« Psychopathen, die Mikes dieser Welt, den Ball einfach aus dem Spielfeld.
Zweifellos gibt es einen sehr großen Unterschied zwischen solchen Menschen und dem Rest von uns. Aber das Problem ist, dass
wir nicht alle in einer solch dünnen klinischen Luft leben. Eigenschaften, wie sie Hannibal Lector hat, der gernemenschliche Leber zum Frühstück isst, unterscheiden solche »reinen« Psychopathen von uns anderen, sind aber auch, wie alle
Persönlichkeitsmerkmale, gleichmäßig in der gesamten Bevölkerung verteilt. So wie es keine »amtliche« Grenze gibt zwischen
jemandem, der Klavier spielt, und einem Konzertpianisten, oder jemandem, der Tennis spielt, und etwa Roger Federer, so ähnlich
unscharf ist auch die Abgrenzung zwischen einem erstklassigen Psychopathen und jemandem, der sich lediglich »psychopathisch«
verhält.
Betrachten wir das genauer. Es kann sein, dass ein Mensch sich zum Beispiel in Notlagen extrem kaltblütig zeigt und auch einen
leichten Mangel an Empathie aufweist. Dennoch handelt er weder gewalttätig noch unsozial noch gewissenlos. Er oder sie weist
also zwei psychopathische Merkmale auf und steht damit auf der »psychopathischen« Skala höher als jemand, der diese Merkmale
nicht aufweist. Aber damit ist dieser Mensch noch nicht in der Gefahrenzone derjenigen, die alle diese Merkmale aufweisen.
Wie ein Soundtrack, der am Mischpult eines Aufnahmestudios zusammengemischt wird, ist auch der »Soundtrack« einer Persönlichkeit
von verschiedenen Einstellungen abhängig.
Die Psychologen Scott Lilienfeld und Brian Andrews haben eine Alternative zu Robert Hares Psychopathy Checklist entwickelt,
die genau auf diesem Prinzip des Soundtracks beruht. Sie heißt »Psychopathy Personality Inventory« (PPI) und ist besser geeignet,
in der normalen, nicht kriminell oder klinisch auffälligen Bevölkerung psychopathische Persönlichkeitsmerkmale zu messen.
Bei dieser Methode liegt der Schwerpunkt also nicht auf Einzelfällen von außergewöhnlichen Störungen, sondern auf allgemein
verbreiteten psychopathologischen Zügen.
Eine solche Betrachtung hat natürlich starke Auswirkungen auf die Art, wie wir uns dem Phänomen annähern. Handelt es sich
bei Psychopathie um eine Frage von alles oder nichts? Oder eher um eine Art Virus, das vorhanden sein kann, ohne dass alle
Symptome zum Ausbruch kommen? Unterscheiden sich Psychopathen grundsätzlich vom Rest der Bevölkerung oder sind sie nur der
Bodensatz eines ziemlich trüben Genpools? Undkann es sein, dass Psychopathen keineswegs generell eine Gefahr darstellen, sondern vielmehr etwas Besonderes anzubieten haben,
weil die richtige Kombination psychopathischer Merkmale, wenn sie auf den richtigen Tonspuren sorgfältig gemischt sind, zum
Vorteil für uns alle werden kann?
Letztere Beobachtung ist der Grund dafür, dass Psychopathen für die Wissenschaft ein solches Rätsel darstellen. Ich hatte
gerade mein Psychologie-Diplom in der Tasche, als ich zum ersten Mal auf ihre emotionalen Steckbriefe stieß. Am meisten fesselte
mich die Fähigkeit, geschmeidig jede emotionale Bresche zu nutzen. Eine Kerneigenschaft von Psychopathen, die in jedem einschlägigen
Test auftaucht, ist die Fähigkeit, andere zu überzeugen, andere zu beeinflussen.
Und genau da ist der Knackpunkt. Denn wie wir gesehen haben, messen diese Tests auch die Empathie-Fähigkeit. Das ist merkwürdig.
Denn wie, so fragt man sich, kann
Weitere Kostenlose Bücher