Gehwegschäden
das Leben sein. Was sagen, ohne was zu sagen. Was aber voll sitzt. Thomas nahm das Handy, zog sich was an, lief in die Küche, kochte Kaffee, Eier, packte Brot in den Toaster. Das musste genau überlegt sein. Wenn Sandra um neun Uhr an einem Zehnkilometerlauf in Köpenick teilnahm, Luftlinie fünfundzwanzig Kilometer entfernt, würde sie frühestens 11.30 Uhr hier, das heißt in seiner Wohnung sein, das heißt vollkommen nackt unter seiner Dusche stehen. Thomas sollte sich aber schon um 11.00 Uhr bei Platoon bereithalten. Bei illegalen Guerilla-Aktionen kam es ganz genau auf die minutiöse Einhaltung des Zeitplans an. Seine Order war: 11.00 Uhr Treffen auf dem Hof von Platoon. Dort würde das Material präpariert und die weitere Koordination ausgegeben. Thomas wusste nicht, welchen Part Sandra übernehmen sollte. War sie als Fahrradfahrerin eingeteilt? Würde sie ein Begleitfahrzeug fahren? Am Ende gar den Fluchtwagen? Es raschelte.
»Machst du Frühstück?«
»Ja. Willst du ein Ei?«
»Ja. Gerne.«
Marie-France klang, als würde sie sich wieder umdrehen.
Sie musste sich verschätzt haben. Thomas war sicher, dass Sandra sich um eine Stunde verschätzt hatte. Große Unruhe ergriff ihn. Wenn er Iepe anrief, konnte er zur Not noch eine Dreiviertelstunde rausschinden. Selbst dann würde es knapp werden. Thomas gab in der Küche eine Buchstabenfolge in sein Handy ein.
Dachte um elf bei Platoon? Klar kannst du …
Drei Punkte schrieb er am liebsten. Ziffern konnte er gar nicht.
Normalerweise ging Marie-France gleich nach dem Frühstück nach Hause. Ausgerechnet an diesem Sonntag verbreitete sie Sonntagsruhe. Sie stand auf und verschwand eine Ewigkeit im Bad. Sie frühstückte extrem langsam. Sie rauchte und räkelte sich. Sie wolle sich ein wenig sonnen auf dem Balkon, sagte Marie-France. Thomas sah hinaus. Die Sonne schien. Das war ihm gar nicht aufgefallen. Er sah auf die Uhr. Da war es wieder. Das Dilemma. Der Betrug. Frauen spüren so was. Das machte sie absichtlich. Die riechen das. Thomas wollte was sagen, wusste aber nicht, was.
»Das geht heute aber nicht.«
»Was geht heute nicht …« Marie-France schlug ihre wunderschönen hellbraunen Juliette-Gréco-Augen auf.
»Sonnen. Ich meine, auf dem Balkon.«
»Wieso nicht? Die Sonne scheint doch …«
»Ja weil wegen der Kunstaktion«, stammelte Thomas.
»Ja und? Die fängt doch erst später an, ein Uhr hast du gesagt, da hab ich doch Zeit?«
Marie-France sah ihn fragend an.
»Ja aber es kann sein, dass hier vorher, ich meine, dass meine Wohnung vorher noch als eine Art Einsatzzentrale gebraucht wird. Ganz einfach, weil sie am nächsten dran liegt. Die haben sich schon gemeldet.«
Thomas war auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Er sah, wie sich ihre großartigen haselnussfarbenen Juliette-Gréco-Augen südfranzösisch verfinsterten. Er begriff sofort, dass er etwas Saudummes gesagt hatte, wusste aber nicht, wie er da wieder rauskommen sollte. Marie-France explodierte ohne Verzug.
»Da will ich einmal, ein einziges Mal mich sonnen auf deinem Scheißbalkon, und das geht nicht? Wegen deinen dummen Schachboxern? Ich hab langsam die Schnauze voll! Immer deine dummen Scheißschachboxer! Was bin ich denn? Du willst nicht mit mir zusammenziehen, du willst nicht heiraten, nein, du schämst dich mit mir! Schämst du dich mit mir?«, schrie Marie-France und holte Luft. »Und ich kann mich nicht mal sonnen? Was bin ich? Die Dumme? Ich bin immer die Dumme! Das war immer so! Mit allen Männern! Ich bin immer die Blöde!«, schrie Marie-France.
Ihre umbrafarbenen Juliette-Gréco-Augen funkelten ihn hasserfüllt an.
Thomas würde sich auf eine Grundsatzdiskussion einlassen müssen, an deren Ende er sie in den Arm nehmen und versprechen müsste, dieser Tag gehöre ausschließlich ihr. Selbst dann wäre eine zeitnahe Aussöhnung ungewiss. Thomas überlegte. Er sah auf die Uhr. Marie-France’ tiefschwarze bambiwunde Juliette-Gréco-Augen brachen in Tränen aus. Sie stand auf, zog sich an und warf die Tür hinter sich zu. Thomas sah auf die Uhr.
10.12 Uhr.
Es ist eine wacklige Sache. 40 Liter Farbe müssen in einer Wanne aus organischem Polymer vor dem Lenker eines silbergrauen Mietfahrrads der Deutschen Bahn transportiert werden. Das ist nicht ganz einfach. Auf dem Hofgelände von Platoon, Urban communication & Political affairs, Platoon in real berlin & newBERLIN (eat shit & then die), werden die Räder vorbereitet. Otto, Werner, Kevin, Daniela, Murat, Samy
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