Gehwegschäden
Uhr.
Thomas und Sandra treffen sich auf dem Hof von Platoon. Thomas’ Knie zittern. In diesem Moment wird am Bratwurststand im Hof der umspannenden Weltwerbeorganisation eine Runde Schnaps verteilt. Im nächsten Moment läuft Thomas vom Hof und krümmt sich, er hat stechende Magenschmerzen. Entweder hat ihn sein unerhörtes Glück plattgemacht, oder seine Bauchspeicheldrüse verträgt keinen Schnaps mehr.
Im Café St. Oberholz herrscht Aufregung. Ausnahmslos alle Prekarianer sind von ihren Laptops aufgesprungen und auf die Straße gelaufen. Sie stehen an der Kreuzung Rosenthaler Platz, laufen hin und her, betrachten die Kreuzung in alle Richtungen, gestikulieren und freuen sich. Sie klatschen in die Hände, sie klatschen sich ab, sie pfeifen fröhlich und umarmen sich. Sie fotografieren und filmen die Kreuzung Rosenthaler Platz mit ihren Handys in alle Richtungen. Sie kehren zurück zu ihren Tischen, an ihre Laptops, speisen die soeben mit dem Handy fotografierte und gefilmte Kreuzung Rosenthaler Platz in alle möglichen Netzwerke ein und betrachten die Kreuzung Rosenthaler Platz auf den Bildschirmen ihrer Laptops aus allen Richtungen.
Im Hof der globalen Werbeweltmeister steht Thomas mit grünem Gesicht. Es ist ihm flau im Magen, er fühlt sich aber irgendwie von Sünde erlöst. Die Hochdruckreiniger machen einigen Lärm. Sandra sitzt auf dem mit Bierkisten gestützten Brettablagesystem zwischen den Schachboxern Otto, Kevin, Murat, Werner und Daniela. Am Bratwurststand werden Bratwürste gegrillt.
In einem Hof Zehdenicker Straße, Ecke Weinbergweg, steht ratlos ein junger Polizeibeamter. Er hat die roten, gelben, blauen und purpurvioletten Fahrradreifenspuren bis zu diesem Punkt verfolgt. Hier scheinen die Spuren zu verschwinden. Der ältere der beiden Polizeibeamten ist bereits auf dem Weg zurück zum Einsatzfahrzeug.
15.31 Uhr.
In der Wohnung im vierten Stock über dem Café St. Oberholz räumen junge Mädchen auf. Sektgläser, Knabbergebäckschälchen werden geordnet in die Spülmaschine gestellt, gebrauchte Papierservietten in Müllsäcke gestopft, leere Flaschen in Kästen gesteckt und Zigarettenstummel aus der Toilette gefischt. Die Aufnahmeleiterin sucht nach ihrem Handy.
15.37 Uhr.
Im Hof der Werbeweltglobalorganisation machen die Schachboxer Mathias, Hieronimus, Friederike und Samy the lawyer um den Holländer Iepe herum ein kleines Tamtam. Thomas setzt sich auf eine Bierkiste neben die Schachboxer Otto, Kevin, Murat, Werner, Daniela und Sandra. Er zündet sich eine Zigarette an und betrachtet Sandra von der Seite. Sie ist wunderschön. Sandra bemerkt seinen Blick auf ihrer nach Weingummi Waldmeister riechenden Pausbacke und sagt: »Schönes Wetter.«
www.urbanophil.de, 16.12 Uhr. Bekanntlich befindet sich am Rosenthaler Platz das Café St. Oberholz, ein Ort, an dem man sich über schnelle Verbreitung keine Sorgen zu machen braucht. Interessant daher eine Geschichte, die auf dem Blog The Ambassador erzählt wird: Der Autor postet ein Foto auf Twitter und einen kleinen Artikel über die Kunstaktion auf seinem Blog, bekommt innerhalb kürzester Zeit so viel Response wie in seinem ganzen Leben noch nicht und erleidet einen Kreislaufzusammenbruch. Für ihn (wie für uns) eine faszinierende Geschichte, wie schnell eine Revolution durch soziale Medien zu Zersetzung führt.
www.bz-berlin.de, 16.50 Uhr. Der Rosenthaler Platz sieht bunt. Ein »Künstler« hat sich dort verewigt, zum Ärger der Autofahrer. Mehrere unbekannte Radfahrer verschütteten am Sonntag gegen 13.00 Uhr eimerweise Farbe auf den Fahrbahnen am Rosenthaler Platz. Ist das Vandalismus oder Kunst? Anarchie oder Unsinn? Die Autos fuhren durch die Farbe und verteilten sie dann auf der ganzen Kreuzung. Die Farbe ist abwaschbar, die Stadtreinigung will auf Regen warten.
www.nerdityourself.blogsport.de, 17.04 Uhr. Ich dachte zunächst, wie kindisch, Farbe auf den Boden schütten und das noch lustig finden. Das ist es tatsächlich: Die Farbspuren breiten sich zu Flächen über den gesamten Rosenthaler Platz aus. Sehr schick. I like it: cool color revolution at Rosenthaler Platz.
17.22 Uhr. Thomas’ Handy klingelt.
Shandor.
»Also das ist doch nicht zu fassen! Geht’s noch? Unerhört! So was!«
»Ach Shandor, ich kann jetzt nicht.«
»Weißt du, was die gemacht hat, diese Person?«
»Nein. Also gut. Wer? Deine Frau oder die Kinderfrau?«
»Die Kinderfrau …«
»Und was?«
»Die hat gekündigt! Kannst du dir das vorstellen?!«
Thomas
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