Gehwegschäden
brutaler Belanglosigkeit, persifliertes binäres System, Null, Eins, Chaos und Ordnung, Schwarz und Weiß, will sagen: was sagen, was nichts sagt. Was aber voll sitzt. Dieser Stil! Magic. Wie maßlos hatte er ihre heißblütige Kaltschnäuzigkeit bewundert. Großartige Generation das. Einfach Magic.
Inzwischen war seine Begeisterung für ihre indirekte Direktheit ein wenig abgekühlt. Hundertmal hatte er sie dienstags und freitags getroffen, acht bis neun Uhr dreißig, ihr am Schachbrett gegenübergesessen, Sandsäcke verdroschen und ihren Spagat bewundert. Sie waren Kaffee trinken gewesen, sie waren Bier trinken gewesen. Sie waren Glühwein trinken gewesen, und sie waren Limo trinken gewesen. Glühwein hieß auf Dänisch »Glück«. Jedenfalls in etwa. Das hatte sie auf einem Spontanflug zu einer Spontanparty um die Weihnachtszeit herum nach Kopenhagen gelernt, wo sie spontan eine Freundin besuchte. Sie hatten sich zu einer spontanen Anti-Nazi-Demo am 1. Mai spontan auf ihrem WG-Balkon im 4. Stock über ihrer Straße Ecke Schönhauser Allee getroffen, wo 7000 Demonstranten versuchten, 34 angemeldet demonstrierende Neonazis einzukesseln und dabei von 15 000 Polizisten spontan weggetragen wurden (inklusive des stellvertretenden Bundestagspräsidenten, der dafür Ärger bekam). Spontan war ihr Lieblingswort.
Sie waren laufen, Fahrrad fahren, Tennis spielen, sie haben sich Gran Torino , Coco Chanel , Macbeth und einen alten französischen Policier im Kino angesehen, sie waren beim Pecha Kucha, hatten Schach- und Boxvideos in der Schachboxwohnung angesehen und sich eine Menge zu sagen gehabt, was nichts sagt. Thomas war glücklich. Es hatte ihn nur anfänglich gestört, dass bei all diesen Treffen auch fast immer ihr gesamter oder in Einzelelementen auftretender Hofstaat bestehend aus den Schachboxern Otto, Guido, Eric, Murat, Marcel und Daniela dabei war. Er war sogar schon auf die Idee gekommen, der ein oder andere aus dieser permanenten Entourage könne ebenso in Sandra verliebt sein, so wie er, außer Daniela natürlich (aber wusste man’s?), und ganz besonders Guido, der auf einmal so entsetzlich abgemagert war, einen grauen Stoppelbart trug und in letzter Zeit durch Stille wie Abwesenheit auffiel. Aber dann zwinkerte sie ihm wieder einmal so zu, nur ihm so zu, ganz allein so zu ihm, jeder Irrtum vollkommen unzweideutig ausgeschlossen, und lächelte ihn so gnadenlos vielsagend an, dass er alle Bedenken verwarf und sich seiner Verliebtheit wieder fest entschlossen stellte.
Thomas war glücklich gewesen in dieser Zeit, in der sich sein Herz Dienstag und Freitag acht bis neun Uhr dreißig überschlug. Glücklich in vieldeutiger Unverbundenheit und abstruser Unpräzision ihrer andeutungsweisen Undurchschaubarkeit. Nur einmal war sie bei all diesen Geselligkeitsgelegenheiten ihm gegenüber so etwas wie persönlich geworden. Sie hatte angedeutet, sie könne sich vorstellen, einmal nach Australien zu gehen. Thomas war völlig überrascht. Sie habe in letzter Zeit in merkwürdig massierter Häufigkeit Australier kennengelernt, was kein Zufall sein könne, und jetzt könne sie sich vorstellen, einmal nach Australien zu gehen. Sie sagte das im Brustton einer Thomas bisher unbekannten Überzeugung, auch noch mit dieser Brikettstimme, die Thomas unvermindert in den Unterleib hinabstieg, und das hatte ihn irgendwie verstört.
Aber nun endlich, nach allen Dienstagen und Freitagen, nach den unzähligen multipersonellen Unternehmungen, fadenscheinheilgen SMS-Nachrichten und maximalnebulösen E-Mails, wollte sie endlich ihre Bedenken beiseiteschieben. Und die von endogenen Opiaten vernebelten Komplimente eines talentierten Autors mit offenen Armen auf sich regnen lassen.
Stopp.
Da fiel es Thomas erst auf. Genau genommen bedeutete das ja nur, jedenfalls wörtlich gelesen, sie wolle ihre Bedenken beiseiteschieben, Komplimente auf sich regnen zu lassen. Und nicht etwa Bedenken bezüglich einer sexuellen Interaktion oder einer möglichen, daraus resultierenden und wie auch immer gearteten Beziehung. Grandios. Sensationell.
Wie immer, und das wusste Thomas natürlich, musste man aber auch den Gesamtwortlaut genau untersuchen, sezieren, in einen Zusammenhang stellen, bewerten, evaluieren und einordnen. Da waren ja noch die Hatfield’schen Abhandlungen über den Begriff Liebe sowie ihre Bedenken bezüglich der aufsteigenden Euphorie. Also ihrer bisher womöglich noch unterdrückten Liebe zu Thomas. Allein das Bild »Bedenken
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