Gehwegschäden
Weibchen bringt in sechs bis acht Würfen rund 40 Junge zur Welt. Diese sind in sechs Wochen selbstständig.
Wird der Populationsdruck unter der Erde zu groß, tritt die Gruppe an die Oberfläche und nistet in Kellern, Zwischendecken und Hohlräumen von Gebäuden. Hier können die Mitarbeiter der Behörde anhand von Kot, Rattenfraß, Wander- und Schwanzschleifspuren Rückschlüsse auf die Populationen schließen.
Die Behörde schätzt vorsichtig, dass auf jeden Einwohner inzwischen drei bis vier Ratten kommen. Das entspricht einer Zahl zwischen zehn und vierzehn Millionen. Mehrfach im Jahr kommt es zu neuen Generationen. »Das ist ein schleichender Prozess, der bemerkt, aber ignoriert wird«, sagt eine Mitarbeiterin der Behörde.
UND ZORN
33. Bittere Wahrheit. Thomas liest Marie-France eine Geschichte vor und versteht nicht, warum sie die Geschichte nicht versteht
Thomas sitzt an seinem Schreibtisch. Vor ihm ein Stapel Bücher, sein Laptop, eine Mappe. Marie-France liegt schon im Bett. Es ist nicht weit vom Schreibtisch entfernt. Sie liest. Thomas hat seine Lesebrille auf und blättert im Schein der Schreibtischlampe in einem Buch. Er legt es beiseite.
»Ich möchte dir gern was vorlesen.«
»Was denn?«
»Es ist nicht lang. Hör einfach zu.«
»Okay.«
Marie-France richtet sich im Bett auf und lehnt sich an die Wand. Thomas liest langsam und laut:
»Ich glaube,
nein, sagt er.
Ja, aber ich glaube,
nein.
Ich glaube nicht mehr, ich weiß es. Ich habe die Wahrheit erkannt. Die bitterste von allen.
Ja, was denn?
Er: Unser Kind.
Sie: Unser Kind?
Ja.
Was ist mit unserem Kind?
Es ist nicht unser Kind.
Samuel?
Ja.
Nicht unser Kind? Samuel?
Ist nicht unser Sohn, versteh doch!
Nein, versteh ich nicht, wieso nicht unser Sohn?
Weil er nicht unser Sohn ist. Er wäre nicht unser Kind. Nicht meins, nicht deins, auch wenn wir uns es noch so gewünscht haben. Er ist nur ein weiteres Wesen, wie wir alle.
Was?
Ja! Nur ein weiteres Wesen. Und es nährt sich an deiner Brust und von meinem Geld.
Sie: Was?
Es nährt sich, es benutzt uns nur, es saugt uns aus, und ich müsste dafür auch noch mein Leben ändern.
Was? Was redest du da? Sag mal, vielleicht hättest du nicht mitkiffen sollen, jedenfalls nich so viel, warn bissel viel, verträgst es ja nich so …
Aber versteh doch! Ich habe mein Leben geändert wegen ihm, wegen Samuel.
Ach, entspann dich …
Aber er hat nichts geändert, wegen mir. Ich meine, das ist nicht fair. Er liebt uns nicht. Versteh doch! Ich spiele auch so gern mit ihm im Sandkasten am Platzhaus, aber er will uns nicht um unsrer selbst willen. Er nimmt uns nur, weil er nicht anders kann, weil er niemand anderes hat, der sich für ihn interessiert, als Säugling. Das ist auch logisch, aus seiner Sicht.
Was? Niemand anderes? Spinnst du?
Nein. Ich weiß es einfach. Jetzt. Plötzlich. Es ist doch völlig klar: Er ist nur ein weiteres Wesen, genau so eines, wie wir es sind, und es will nur sich und sein Bestes. Alles andere ist ihm egal. Genau wie uns. Lass dich doch nicht täuschen von seinem Kindsein, seinem süßen Lächeln und dem lustigen Gebrabbel. Er ist wie wir.
Sag mal, spinnst du jetzt komplett?
Er ist wie wir, Hamlet, du zerreißt mir das Herz, Huhn, ich habe ihn auch so gern, aber der Himmel hat es so gewollt und will so strafen, und dies durch mich. Der Herr schaffe ihn nun fort.
WAS? WAS REDEST DU DA? SPINNST DU?
Durchaus nicht. Das, was ich heiße. Und für ein paar stinkende Küsse, sei gewiss, meine Worte Atem sind, und Atem Leben ist, dann muss ich nach England. Es ist so ausgemacht …
WAS? WOVON REDEST DU, DU IRRER?
Gute Nacht, Mutter. Ganz still. Ganz verschwiegen, der Moment, der Schlaf, kommt, Herr, nehmt das Wesen fort sodann …
HALLO?! HALLOHALLO …?!
Was denn? Er ist nichts anderes als ein weiteres brutalstmöglich eigennütziges Wesen. Nur eines mehr. Und es nährt sich durch uns, saugt uns aus!
HEY DU MACHST MIR ANGST!!!
Aber es ist so, wie alles ist, Pestilenz. Es ist so beliebig. Auch du und ich. Wie Worte Atem sind.
WAS??? WAS REDEST DU DA!!!???
Er sagt nichts mehr.
Er steht auf, entschlossen, er geht einmal um das Bett herum, Entschlossenheit ist nun mal das unumstößliche Maß unserer Zeit, er öffnet das Fenster und nimmt den Säugling Samuel aus der ans elterliche Bett angedockten Babybay heraus, sie versucht, dieses schreitende Felsmassiv daran zu hindern, ein wenig vergeblich, sie schreit, hämmert, trommelt mit beiden Fäusten auf
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