Gehwegschäden
Kindern auf der anderen Seite des Brandenburger Tors, Zocker, Bänker, die wurden angeprangert, Leute, die alles verspielt haben, sollen jetzt das neue System aufbauen, sagte ein Sprecher, das gehe doch wohl nicht an, es waren doppelt so viele Teilnehmer wie angekündigt. Hören wir eine 38-jährige Demonstrantin und Mutter:
Ach, Arbeit wird an diesem Tag immer so groß geschrieben. Arbeit soll ja das Leben schöner machen. Aber viele Menschen müssen auch ohne Arbeit auskommen, und was machen die dann?
Es gab aber noch viele weitere Demonstrationen, dazu mehr gleich, auch die NPD nutzt diesen Tag gern zur Öffentlichkeitsarbeit, bleiben Sie bei uns, Norbert Siegfried ist vor Ort. Norbert …
Norbert?
Norbert?
Ähja, eine Störung, wie ich gerade höre. Ähja. An der Monbijoubrücke, da liegt die Mutter aller Strandbäder. Aber wer kommt an diesem Tag hierher? Fragen wir unseren Reporter Jürgen Hobrecht vor Ort.
Nun, sagen wir, große Horden zogen durch die Straßen in Berlin und kommen jetzt hierher, wo was los ist. Die Berliner kommen und tanzen und lassen die Füße baumeln, das Wasser, die Boote wie Urlaub, und wenn das hier wie Urlaub ist, wir haben Pizza, wir haben Palmen, es ist alles da, was man für Bella Italia in Berlin braucht, dann stimmt das, also italienischer Sommer und ewig süßes Leben in Berlin, und wir sehen uns das später noch mal an, was hier passiert.
Danke Jürgen, high live und Halligalli überall, und neben dem Aktuellen, Jörg, kannst du uns jetzt endlich zeigen, dass es bereits zu Ausschreitungen gekommen ist?
Krrzzt.
Flop.
13. Stadt der Verzweifler. Ein Sonntagnachmittag bei Marie-France auf dem Sofa, Frantz macht sich ein Brot und sieht fern, endlich kommen Obdachlose zu Wort
»Es ist«, sagt Marie-France, »ein Problem der deutschen Männer.«
Sie dreht sich eine Zigarette.
»Neulich saßen wir bei Anna Koschke und hörten Luzifer zu, der erzählte von seiner Eigentumswohnung und seiner Datsche, die ihm auch gehört, der zufrieden war und nichts anderes als Wirt sein will und einen langjährigen Freund hat. Toll, hast du gesagt. Thomas. Das möchte ich auch, so eine Datsche. Sollen wir wieder mit der Nummer anfangen?«
Marie-France steckt sich die Zigarette an und schlägt die Beine übereinander. Ihre hübschen Füße mit den stets rot lackierten Nägeln stecken in spitzen, lilafarbenen marokkanischen Pantoffeln.
»Du willst doch gar nichts.«
Marie-France blickt Frantz mit ihren sorgenvollen Juliette-Gréco-Augen ein wenig vorwurfsvoll an.
Thomas Frantz sitzt auf dem Sofa in der Wohnung seiner Freundin und sieht runter auf den Zionskirchplatz. Sonntagnachmittag, es ist immer ein Sonntagnachmittag, wieso eigentlich? Das ist ein Phänomen, das noch niemand untersucht hat. In Thomas Frantzens Fall ein doppeltes, denn eigentlich ist der Sonntagnachmittag, also nach zwölf Uhr, wenn die meisten anderen schon gegessen haben, der einzige Teil der Woche, an dem er sich in relativer Übereinstimmung mit dem Rest der Welt befindet; der Teil der Woche, an dem er ausnahmsweise die gleichen Bedürfnisse hat und nahezu ähnliche Handlungen vollzieht. Er hat lange geschlafen, ausgiebig gefrühstückt, er beginnt den Tag mit Müßiggang, neigt zu Nickerchen, und er sieht zu, dass er den Tag auch in dieser Weise beendet.
Manchmal macht er, wie der Rest der Welt, einen Ausflug. Marie-France und er gehen in den Park, erkunden die Umgebung, machen eine Fahrradtour durch die Stadt, einen Spaziergang über den Flohmarkt. Aber der Freiberufler hat es an einem Sonntag schwer. Es ist für einen Freiberufler kein Unterschied zwischen einem Sonntag und einem ganz gewöhnlichen Tag der Woche, der Freiberufler kann jeden Tag zum Sonntag machen, wenn er will. Deshalb ist der Sonntag kein Sonntag, vielmehr ein Tag des schlechten Gewissens.
»Diese Problematik«, fährt Marie-France fort, »dass du Leute beneidest, die einen Standpunkt haben, ein Kind, ein Zuhause, eine Ehe, eine Datsche, du zweifelst an dir, weil du das nicht hast, und du hast gleichzeitig die Vorstellung, dass du ebenso verzweifeln würdest, wenn du es hättest. Es ist die Unmöglichkeit. Permanent verzweifelt zu sein, weil du nichts zustande bringst neben Leuten, die das gemacht haben. Ich kenne das von allen deutschen Männern, mit denen ich zusammen war. Es ist immer der Zweifel. Das Schizophrene der Situation ist, an allen Standpunkten zu zweifeln. Ich bin Redakteur, sagt ihr, und ich stehe zu dieser Zeitung, ich stehe zu
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