Gehwegschäden
den Partnern. Liebe schafft man nach zwanzig Jahren. ’s isch, wie’s isch. Wenn man in zwanzig Jahren Ehe Fakten geschaffen hat, sieht der eine dem anderen die Fehler nach. Den Alkohol und die miesen Launen, die Herrschsucht und den Geiz, die Egomanie und den schwäbischen Dialekt. Einzig der Zweifler stellt nur Fragen. Er kann Gut von Böse nicht unterscheiden vor lauter Fragen. Gibt es gut und böse? Ist das nicht ein bisschen wie schwarz und weiß? Aber wer weiß, ob nicht der Zweifler doch am Ende recht behält? Ist er nicht gar ein Synonym für eine Gesellschaft, die sich permanent in Frage stellt? Sind wir Menschen als Tierart am Ende nur das Produkt einer Zeit, in der die Zweifler keine Kinder mehr bekommen, weil das vielleicht einen evolutionären Grund hat? Sind wir nicht Kinder von Eltern, die das Kinderkriegen noch als Plage empfunden haben? Aber Marie-France kann dir ja gar keine Kinder mehr schenken, sagt sich Thomas Frantz. Nein, aber sie könnte mir ein Heim schenken, ein Zuhause, einen Hafen, eine Zugehörigkeit, eine gemeinsame Wochenenddatsche, widerspricht er sich. Warum trennst du dich nicht von ihr und suchst dir eine Jüngere, die dir Kinder gebären kann, und springst hinein und schaffst Fakten und ein Leben? Ja, aber wie soll ich dieses neue Leben denn ernähren? Die Natur, das Leben, wird einen Weg finden! Aber wenn ich dann bei der Einschulung schon bald sechzig bin, wie all diese alten Knallköpfe in den Sandkästen, was dann? Und könnte ich Marie-France das überhaupt antun? Dann drehe es doch mal um: Würde Marie-France, wäre sie an deiner Stelle, nicht exakt so handeln und sich völlig naturgemäß für das Leben und einen anderen Mann entscheiden?
Marie-France richtet sich auf und nimmt einen Schluck Tee. Sie stöhnt.
»Ihr seid ein Zweifelvolk. Weil ihr so wenig Licht habt. Viel mehr Dunkelheit als Sonne. Da kriegt man einen anderen Blick.«
Frantz sieht runter zum Zionskirchplatz und überlegt.
»Wir haben kaum noch Tabak«, stellt er fest.
»Dann geh runter und kauf welchen.«
Thomas Frantz ist zu stolz, sie um Geld zu bitten. Er hat keines mehr, und der Austausch von Geld ist zwischen ihnen kein Thema, dennoch wäre es ihm wie Betteln vorgekommen. Marie-France geht an ihre Handtasche, zückt den roten Geldbeutel und gibt Frantz einen kleinen Schein. Frantz fühlt sich elend. Er steckt den Schein ein, streift seine Jacke über und geht runter.
Im Laden kauft er eine Schachtel Zigaretten. Es ist kalt, die Straße nass. Frantz steht draußen an einem der beiden Tische, an denen sonst die Arbeitslosen stehen, rauchen und Bier trinken. Frantz raucht. Fehlt noch das Bier, denkt er. Es ist das erste Mal, dass er hier steht.
Leistungsträger.
Der Begriff fällt ihm auf einmal ein. Ein kalter, ökonomischer, ein technokratischer Begriff. Ein genauer Begriff, denn er teilt die Menschen ein in solche, die ihm entsprechen, und andere. Ein Begriff, der aussortiert. Ein Mann kommt über die Straße und stellt sich an den anderen Tisch. Umgeben von dunstiger Feuchtigkeit holt er eine Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche und steckt sich eine an. Der Mann mochte Mitte fünfzig sein. Er hustet.
Ist eine Mutter mit zwei Kindern, die keine Alimente, aber Geld vom Staat bekommt, noch ein Leistungsträger? Thomas Frantz bekommt kaum noch Aufträge, und die Geschichten, die er schreibt, werden immer schlechter bezahlt. Lange, denkt er an diesem Sonntagnachmittag, wird er kein Leistungsträger mehr sein, der Mann gegenüber hat traurige Augen. Von den Honoraren kann er kaum noch leben. Der Mann hustet, die Kälte raus. Auch so einer, denkt Thomas Frantz. Aussortiert. Hat nicht mal mehr das Geld fürs Sonntagnachmittagbier.
Über dem Kopf des Mannes öffnet sich ein Fenster. Ein anderer Mann, vielleicht Anfang fünfzig, streckt den Kopf heraus. Er platziert ein Kissen auf dem Fensterbrett, lässt sich darauf nieder, und es sieht aus, als wolle er dergestalt seinen Sonntagnachmittag verbringen. Er hat das Gesicht eines Mopses.
Als Frantz zurückkommt, sitzt Marie-France am Computer und legt eine Patience. Er macht es sich auf dem Sofa bequem, sieht hinaus zum Zionskirchplatz und überlegt.
Welche Rolle spielt er eigentlich in dieser Gesellschaft? Er ist doch auch ein Teil, wenn auch ein schwächer werdender, warum kann er nicht einmal für etwas sein, anstatt immer nur dagegen?
»Ich bin für bedingungsloses Sonntagnachmittagbier.«
Marie-France lächelt gelangweilt.
»Armer
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