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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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dieser Frau, ich will aufs Land. Gleichzeitig wollt ihr euch immer aus jeder Situation raushalten, die euch irgendwie festnagelt. Aus Angst vor Freiheitsverlust, aber ihr wisst ja gar nichts mit der Freiheit anzufangen, als darunter zu leiden, dass ihr keine Kinder, keine Häuser, keine Frauen habt.«
    Marie-France sitzt am Tisch in ihrem kleinen Wohnzimmer, der Esstisch ist nicht weit vom Sofa entfernt, und sieht runter auf den Zionskirchplatz. Sie trägt ein blaues Sommerkleid, auch wenn es draußen regnet. Das Kleid betont ihre voluptuöse Figur. Ihre Beine sind makellos. Sie trinken Tee.
    »Ihr nennt das Freiheit.«
    Marie-France’ Augen und Stirn liegen in Falten.
    »Und dann seid ihr Mitte vierzig und stellt fest, dass andere das haben, ihr aber nicht, und zweifelt an euch. Das ist ein Problem, das nicht zu lösen ist. Dazu kommt das Schicksalhafte: Wir haben das nicht bekommen, weil wir nicht die Gelegenheit dazu hatten, die falschen Frauen, die falschen Männer, die falsche Zeit, kein Geld. Und wenn es erreichbar ist und konkret, ist es kalter Kaffee und zweite Wahl. Dann hat es keinen Wert. Weil ihr dem Unerreichbaren nachjagt, um daran leiden und verzweifeln zu können. Woran liegt das? Am Krieg? Am Holocaust? An der Schuld? Aber warum war schon Nietzsche der große Zweifler?«
    Frantz überlegt.
    »Gut. Aber entweder man verkauft seine Seele und macht Karriere, oder man ist ein freier Vogel. Dazwischen gibt es nichts. Entschlossenheit ist das Maß der Dinge und das unumstößliche Maß unserer Zeit.«
    »Eure Freiheit ist euer Untergang.«
    Marie-France steckt sich eine neue Zigarette an und reicht Frantz das Tabakpäckchen. Es ist fast leer.
    »Du beklagst dich die ganze Zeit, aber du änderst nie etwas.«
    »Das stimmt. Veränderungen sind nicht gut.«
    Thomas Frantz raucht. Er denkt nach. Er mag keine Veränderung. Das ist ihm ein Gräuel, selbst wenn die Realität noch so erdrückend ist. Aber wer ständig an der sich ständig verändernden Realität zweifelt, dem dreht sie den Spieß um: Dann zweifelt die Realität auch an ihm, dem Verzweifler. Das ist eine Tragik, von der er lebt.
    Thomas Frantz ist ja Zeuge. Er ist immer nur Zeuge, eine neutrale Instanz, der geborene Beobachter, ein pathologischer Schweizer. Ein Chronist, ewiger Berichterstatter, innerer Protokollant. Der Journalist in ihm ergreift keine Partei. Er hat Verständnis. Er versteht sowohl die eine als auch die andere Seite. Er ist ein Sowohlalsauch. Ein Schweinepriester, der sich nicht für eine Sache, für ein Gefühl entscheiden kann. Ist das ein modernes Phänomen? An der ständigen Veränderung zu verzweifeln? Heute schlank, morgen rank, gestern androgyn, übermorgen Brusthaartoupet? Wer gibt einem da noch Halt?
    Seine Losigkeit. Ist Frantz nicht selbst schuld daran? Weil er sich nie für eine Sache entscheidet, weil er stets durchleuchtet, betrachtet, abwägt, versteht, vergleicht, evaluiert, statt sich zu entscheiden? Thomas Frantz saugt alles in sich auf wie ein Schwamm und nährt täglich seine Zweifel. Ist er nicht ein permanenter Problemsucher? Warum? Nur um von seinen eigenen Problemen abzulenken? Von seiner Losigkeit? Was nagt an ihm, frisst sich durch seinen Kopf wie ein Bandwurm, wer hat das in ihn hineingepflanzt, dieses Zweifeltier? Wer Zweifel sät, wird Zweifel ernten, könnte er jetzt biblisch argumentieren, was ja auch ein hübsches Grundproblem ist. Nein, lieber flüchtet er. Rettet sich in ein intellektuelles Labyrinth und körperliche Qual, spielt Schach, boxt, rennt, rennt auf und davon, und am Ende steht dann wieder so etwas wie ein chemisches Glücksgefühl. Hat er nicht längst erkannt, wie unmöglich es ist, mit einem anderen Menschen sein Leben zu teilen? Und ist er nicht der Sohn eines Mannes, der entscheidungsfreudig war und alles richtig gemacht hat, Frau, Kind, Studium, und hat er ihn nicht einfach verhungern, verrecken lassen am ausgestreckten kalten Arm, hat er ihn nicht umgebracht, gemordet, sich also entschieden und ihn, Frantz, einfach weggegeben in ein Tierheim? Wie sollte er da nicht zum Zweifler werden?
    Frauen. Frauen hatten seine Liebesfähigkeit, die er einmal als beachtlich betrachtet hatte, gründlichst ausgetrieben und zuletzt ein für alle Mal zerstört: Frantz war den kriegerischen Aspekten der Liebe, wie sie von einem bestimmten Frauentypus betrieben wurde, nicht gewachsen. Es waren die gutbürgerlichen, gestählten Kinder, zu denen sich Frantz, das Heimkind, aus verständlichem Mangel

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