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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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hingezogen fühlte, weil sie über alles geliebt wurden und eine Brutalität im Umgang mit anderen Kindern entwickelten, die an Gesundheit nicht zu übertreffen war. Eine Grausamkeit, die sich insbesondere jenen Kindern gegenüber offenbarte, von denen sie verehrt wurden, als gelte es, einen Wettbewerb zu gewinnen.
    Frauen dieses modernen Homo-sapiens-Typs hatten stets das berechtigte Gefühl, etwas Besseres zu verdienen. Sie nährten sich von Zärtlichkeiten und Gefühlen, die ihnen entgegengebracht wurden, bis sie ihres Wirts überdrüssig waren und die Zuneigungen wegwarfen wie ein gebrauchtes Kleenex. Es ist ihnen ihr gesamtes Leben eingeredet worden, wie schön und wertvoll sie seien, und sie bewegten sich in den Seelen wie Hooligans in der Südkurve. Liebe ist ein endloses Boutiquenschaufenster. Darin stehen stumme Diener. Man braucht nur auf dieses oder jenes Item zu deuten und nach Herzenslust zuzugreifen. Katastrophenkinder sind anders. Sie haben Angst.
    Diese Frauen fühlten sich anfangs zu Frantz ebenso hingezogen, wie er sich von ihnen angezogen fühlte. Sie liebten den Geruch der Losigkeit. Des Flüchtigen, das Fluidum des Dahergespülten, das jemand wie Frantz atmete. Er verschaffte ihnen ein erregendes Gefühl von Schmerz, als würden sie sich downtown auf Slumming tour begeben. Mit Kondom, versteht sich. Frantz wiederum war fasziniert von diesem unschlagbaren Selbstbedienungsreflex. Er schien ihnen eine Autarkie zu verleihen, die er maßlos bewunderte. Sie liebten die Verletzlichkeit, die er in seinem massiven Körper verbarg, er wiederum liebte den brachialen Egoismus, der in jeder Pore ihrer weichen Lippen, zarten Haut, fragilen Fingerchen steckte. Stärke und Schwäche in reziproker Affinität. Die Anwältin in Los Angeles. Die Journalistin in Berlin. Die Architektin aus Österreich.
    Aber einer wie er kam für die Reproduktion nun mal nicht in Frage. War er eingangs noch so aufregend gewesen, gab er sich alle Mühe – dafür wählte man jemand anderes. Aus der Diskrepanz zwischen Stärke und Schwäche ergibt sich zudem zwangsläufig Langeweile, wenn der Punkt der Saturiertheit des Stärkeren erreicht ist. Natürlich hatte auch Frantz ausgeteilt und verwundet. Dessen war er sich bewusst. Er hatte andere Frauen sitzengelassen, hatte ebenso wenig über seinen Schatten springen können. Vielleicht lag darin eine ausgleichende Gerechtigkeit. Sein Fortpflanzungswunsch wurde mit Flucht quittiert. Das ist in Frantzens Fall wörtlich zu nehmen. Sobald er ihnen eröffnet hatte, er könne sich in nicht allzu ferner Zukunft durchaus ein gemeinsames Kind vorstellen, saß die Journalistin in der nächsten Maschine nach Tel Aviv (sie wurde überraschend Israel-Korrespondentin einer Tageszeitung) und die Architektin im Flieger nach Moskau (plötzlicher Ruf eines renommierten schweizerischen Bauunternehmens). One way ticket, versteht sich. Die Anwältin in Los Angeles zog es seinerzeit vor, zu Hause zu bleiben. Sie ließ Thomas Frantz – ein Anruf bei der Ausländerbehörde und eine Anzeige bei der Polizei wegen Stalkings genügten – des Landes verweisen und nach Deutschland abschieben. So geht das. Frantz war der Liebe müde geworden.
    Schließlich hatte er diesen Wunsch mehr oder minder aufgegeben.
    Marie-France sieht ihn von der Seite an.
    »Seit ich fünfunddreißig Jahre alt bin, höre ich permanent, dass ich eine alte Schachtel bin. Überall. Seit ich Ende zwanzig bin, gibt mir meine Familie das Gefühl, dass ich gescheitert bin, weil ich kein eigenes Haus habe. Das sind die Gefühle, die mir die Gesellschaft gibt. Wer fragt mich denn? Als ich ein zweites Kind wollte, hatte ich einen Mann, der mich sehr liebevoll ins Krankenhaus zur Abtreibung gefahren hat. Jetzt, wo ich einen Freund habe, der sich im Grunde nichts sehnlicher wünscht als ein Kind, kann ich nicht mehr. Zu alt. Daran kann man verzweifeln. Oder daran, dass ich seit Monaten keinen Auftrag mehr habe und nicht weiß, wie ich meinen Sohn im Studium weiter unterstützen kann.«
    Marie-France schweigt und raucht.
    Frantz raucht und überlegt.
    Freiheit oder Standpunkt? Hätte er Geld, sich eine Wohnung zu kaufen, wär’s ja noch gut. Aber das ist heute nur noch als GmbH mit Partner möglich. C. und D. waren eine GmbH (Werbung). B. und G. waren eine GmbH (Kanzlei). R. und S. waren eine GmbH (Architektur). Loyalität schafft man im Arsch. Durch Analverkehr. Respekt schafft man mit Erfolg. Gemeinschaftlich erzielter Erfolg erzeugt Respekt unter

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