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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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zum Wasser hin aufgereiht sind. Die Menschen auf den Stadtschiffen glotzen die Menschen auf den Liegestühlen an, während die Menschen am Ufer die Menschen auf den Dampfern anstarren. Fast könnte man sich die Hand reichen, aber das tut natürlich niemand. Die Schiffe heißen Bertram und Franziska , Helgard und Pinguin , zu geht’s auf diesem braunen Wasser wie auf einem Verladebahnhof, es riecht nach Schiffsdiesel und See. Frantz sitzt an der Balustrade im Liegestuhl und liest. Er hätte auch im Park auf der Wiese oder zu Hause lesen können, aber das Stimmengewirr an einem Ort wie diesem beruhigt ihn wie der laufende Fernseher am Abend in seiner Wohnung. Dann und wann treten metallische Stimmen aus dem Gebrabbel hervor, zur Linken das Pergamon, rechts der Monbijou. Ab und zu blickt Frantz sich um in der unendlichen Masse und vergewissert sich, dass er nicht der einzige Mensch auf dieser Welt ist. Dann sieht er das Flimmern der Sonne unter der Brücke, das Wasser wirft ein schimmerndes Muster auf die Quader, Frantz beißt in seine Wurst und ist zufrieden. Die unmittelbare Anwesenheit vieler zufriedener Menschen und einer heißen Wurst mit Senf im Brötchen machen ihn nun mal glücklich, und wenn die Spatzen von den Bäumen pfeifen – na umso besser.
    Jetzt müsste der Prekarianerzug in Kreuzberg angekommen sein. Frantz kaut gründlich. Dort wird er sich bis zum späten Abend langsam auflösen oder anschwellen wie ein Bocksgesang, und in der Nacht werden wieder ein paar Möchtegerngangsterkinder mit hochgezogenen Kapuzen und über die Stupsnasen gezogenen Palästinenserschals – eigentlich ein Relikt aus grauer Vorzeit, aber das haben sie nun mal im Fernsehen gesehen – ein paar ungeschickt vor einem Mietshaus abgestellte Mülltonnen in Brand stecken, wie besoffene Indianer in einem Reigen darum herumtanzen, bis ein äußerer Ring von Fotografen und Kameramännern die Szene für die Abendschau und die Montagsausgaben in jeder Perspektive und Verschlusszeit festgehalten hat; man gibt Regieanweisungen und gern ein paar Zehner. Erstermaiwiderstand. Gerechtigkeit und Bier. Das Gesetz westlich des Landwehrkanals. Vollkommen degeneriert. Ihr seid doch eine Generation ganz und gar ohne Hoffnung, ein Satz, den Frantz bei Gertrude Stein gelesen hat, und warum zum Teufel glotzen ihn die Leute auf dem Dampfer bloß so blöde an? Erstemaitour. Terrortouristen. Visagen, Eis und Weißbier kauend, Tourismusterror; einerlei. Da tauchen auch noch diese affig gewandeten Multikultikampfmusiker auf und terrorisieren ihn mit ihrer immergleichen Fünfvierteltaktbeschallung, Sitar, Trommel, Tröte, Bandoneon, Unsinn, Musik ist nicht gegen Gewalt, Musik ist Gewalt, Frantz schmeißt wütend das letzte Stück Wurst weit aufs Wasser hinaus, eine Möwe taucht aus der Höhe ab und fängt den Zipfel im Sturzflug auf.
    Wie manche Menschen.
    Fressen, was Thomas Frantz noch wegwirft, und Frantz, der fährt heim.
    Flop.
    Krrzzt.
    Sommerfrischler und Sympathisanten, Touristen, die auf Ureinwohner machen, Berlin ist die vielfältigste Stadt Deutschlands, sagt die Dame auf VOX, wir gucken mal live auf die Skalitzer Straße, da hat sich eine Frau richtig Mühe gegeben, sich einzukleiden, sehr viel Musik und Solisten und Tracht, das funktioniert ja auch, sehr viele bunte Menschen, aber wir haben’s auch schon gehört, die ersten Steine sind geflogen, leider, das waren die Autonomen, Befürchtungen gab es auch, dass die Mayday-Parade ausarten könnte, sie fand unter dem Motto statt: Ich krieg die Krise, und das nicht erst seit gestern. Die Demo sollte vom Bebelplatz eigentlich durch die Friedrichstraße ziehen, aber das hatte das Oberverwaltungsgericht verboten, also sind sie vom Bebelplatz zum Brandenburger Tor gezogen, also schalten wir doch mal rüber, und was bitte, Jörg, machen die da jetzt?
    Also das hat sich aufgelöst, einige gehen noch zur Kreuzberger Demo und feiern dort, aber mit Einbruch der Dunkelheit und mit steigendem Alkoholeinfluss steigt ja auch bekanntermaßen die Gewaltbereitschaft, und da kommen wir dann im Laufe der Nacht noch mal zurück, versprochen.
    Danke, Jörg. Ja, und in der Walpurgisnacht, da wurden ja schon Mülltonnen in Brand gesteckt, gegen 1.40 Uhr hat sich die Lage beruhigt, Flaschen flogen in Friedrichshain in die McDonald’s-Filiale, 57 Menschen wurden vorläufig festgenommen. Aber Berlin, das ist die Welt im deutschen Reagenzglas, 20 000 fanden sich heute ein zur Demo und Kundgebung der Gewerkschaft mit

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