Gehwegschäden
Idiot.«
Gut. Auch wenn er, wie so viele in seinem Alter, also Mitte vierzig, seinen Platz in dieser Gesellschaft immer noch nicht gefunden hat – oder bald verlieren wird, wie man’s nimmt –, hat er nicht doch immerhin einen Ort? Er ist in Berlin. Als ob Berlin die Verzweiflung wäre. Weil es ja auch immer an sich zweifelt, weil es ja nie fertig sein will, das Gebilde, das nie ist und immer nur wird, die Stadt, die ständig pleite ist und wie er am Tropf hängt und am Abgrund steht. Wenn Hamburg eine Stadt britischer Zurückhaltung ist und München ein Stein gewordenes Bussidiktat des positiven Denkens, dann ist Berlin die Stadt der Verzweifler. Da hat Thomas Frantz doch wirklich seinen Platz gefunden. Nirgends lässt es sich so herrlich verzweifeln. Und ist die Stadt der Verzweifler nicht Hauptstadt der Deutschen, während zum Beispiel Paris eine Stadt der Gewinner ist, der petits fonctionnaires, der stolze, kranke Kopf der Grande Nation? Ist Berlin dagegen nicht schon immer mehr Gastritis gewesen? Ein Leiden, das sich in tieferen Körperregionen abspielt?
Thomas Frantz steht auf, macht sich in der Küche ein Brot und stellt den Fernseher am Fußende des Sofas an. Nachdem er eine Weile herumgezappt hat, bleibt er bei der Wiederholung einer Talk-Sendung auf einem Spartensender hängen. Menschen bei Maischberger.
Frantz hat Talkshows satt, aber er liebt Frau Maischbergers Versuchsanordnungen, und Frau Maischberger sitzt jetzt einer anderen Frau gegenüber, die sie Die Waldfrau nennt. Namen tun hier nichts zur Sache, sagt Frau Maischberger, bleiben wir also bei Die Waldfrau, das ist ja bekannt. Es ist eine gemütliche Studioatmosphäre mit Sesseln und Sofas, Die Waldfrau versinkt beinahe im Polster, und Frau Maischberger macht ein sorgenvolles Gesicht. Die Waldfrau sieht nämlich etwas mitgenommen aus. Extrem abgemagert, Stirn, Hals und Augenpartie vollkommen zerfurcht, ein echter Hingucker in der Nahaufnahme, Die Waldfrau, die sich in der Mitte einer Verwertungskette befindet, an deren Ende ihre Verarbeitung zu Tiermehl steht. Der Auftritt Die Waldfrau steht sehr passend am Anfang der Fraumaischbergersendung mit dem Titel Ausgerissen, abgehauen, obdachlos – kein Weg zurück?, denn Die Waldfrau lebte immerhin zwölf Jahre allein auf der Straße, bis sie ein halbes Jahr in einem Wald bei Köln hauste, sodann ihre Schwester in Dresden besuchte und dort einem Reporter in die Hände fiel, was den Anfang der kolossalen Verwertungskette markierte, des Weiteren durchgenudelt in Boulevard und Panorama landauf und landab, gefolgt von bundesweit ausgestrahlten TV-Auftritten, aber das ist ja bekannt, nun also die Erinnerung an Die Waldfrau wachgerufen durch und dank Fraumaischberger nach genau einem Jahr, was ist also aus Die Waldfrau geworden, und bitte schildern Sie das Martyrium doch noch einmal exakt, ganz genau, Fraumaischberger macht jetzt ein interessiertes Gesicht, sofern das geht, setzt an geholperten Stellen fragend nach, sehr nüchtern, sehr sachlich, detailliert das Ganze.
Danke liebe Frauamarschdiewaldfee (diese ab), und wir kommen nun zu unseren nächsten Gästen.
Es sitzen im Folgenden ein bekehrter Kölner Obdachloser, ein als Das stadtbekannte Original eingeführtes Ingredienz, und zur Fraumaischbergerlinken der Sehr bald Vater werdende Der Straßenjunge Ratte samt eigenem Streetworker auf der Polstergarnitur, wunderbare Inszenierung das, anerkennt Frantz und kaut, Der Straßenjunge Ratte wiegt ungefähr zweieinhalb Zentner, trägt Bermudashorts und Flipflops, und dann sitzt da noch als Buhmann der Chef der Polizeigewerkschaft, der jammert (wer jammert, der hat noch vierzig Prozent, denkt sich Frantz) und abwechselnd unterlegt wird von Spruchbändern wie: Keiner ist in Deutschland auf Betteln angewiesen und: Fordert generelles Bettelverbot in Deutschland.
Richtig, flankiert Das stadtbekannte Original, wer in Köln verhungert, ist dumm. Der Straßenjunge Ratte grinst, Das stadtbekannte Original hebt an, eine Geschichte aus seiner Zeit auf der Platte zu erzählen, wird aber von Fraumaischberger direkt und barsch unterbrochen: Ist doch gut, dass Sie hier mal zu Wort kommen.
»Richtig. Ist doch gut, dass mal eine Diskussion über Obdachlosigkeit geführt wird«, murmelt Marie-France bei ihrer Patience, Frantz muss husten, Der Straßenjunge Ratte bekommt aus dem Off ein Glas Wasser gereicht und danach eine belegte Semmel.
Es wird langsam dunkel.
Marie-France hat noch zu tun. Thomas Frantz schaltet den
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