Gehwegschäden
Bazoobies, regelrecht unanständig, ja mei, mehr Geld, des wär der Wahnsinn.
Rudolf ist Maler. Mitte vierzig, gibt Zeichenkurse an der Volkshochschule, 3,80 Euro die Stunde. Kuratiert Ausstellungen. Galerie La Giraffe, Neukölln, 32 m², Souterrain, alle zwei Monate. Pullunder mit V-Ausschnitt, Cordsamthose. Brille, Stotterer, wohnt bei seiner Mutter in Spandau. Sucht eine Partnerin. Mit Niveau, mit Bildung, mit künstlerischem Ausdruck. Nichts von der Stange.
Der Rektaltrinker, Markus. Mitte dreißig, Produktmanager, mittelgroß, mittelschwer. Beginnt die Vorstellungsrunde mit den Worten: Ich bin Markus, ich bin Alkoholiker. Darüber besteht kein Zweifel. Ich weiß es. Ich war so weit, dass mein Magen den Schnaps nicht mehr halten konnte. Hab alles nur noch rausgekotzt. Irgendwann kam mir dann die Idee: Ich schieb’s mir hinten rein. Ich lass die ganze Flasche einfach da reinlaufen. Ist doch scheißegal, wie das Zeugs in den Körper kommt. Ich bin jetzt trocken. Ich bin Markus. Danke.
Sie alle sitzen im Halbkreis um den Israeli und sein kleines Pult herum und hören aufmerksam zu. Im Laufe der Donnerstagabende dringt Licht ins Dunkel.
»Ein Atom, jedes Atom, besteht zu 99 Prozent aus Nichts. Fakt. Der Tisch, der Stuhl, die Wand, 99 Prozent Nichts. Fakt«, sagt der Israeli.
»Seht ihr? Unsere tägliche Wahrnehmung entspricht also einem Prozent. Fakt! Diesen Zustand nennen wir reaktiv – im Gegensatz zu jenen 99 Prozent des Lichts, die proaktiv heißen. Die metaphysische Ebene ist eine Parallelwelt zu unserer Ein-Prozent-Welt. Fakt! Darin gibt es keine Zeit. Die Erfindung des Telefons? Des Stroms? Der Computer? Gab es alles schon längst darin.«
Immer wieder hält der Mann inne und schaut sehr wissend über seinen Brillenrand.
»Manchmal klingelt das Telefon, und ihr wisst schon vorher, wer dran ist. Nein? Fakt! Da wart ihr automatisch mit den 99 Prozent verbunden. Nicht alles, was logisch ist, ist wahr. Fakt! Kabbala ist das Ende des Films. Wenn wir die 99 Prozent aktivieren, erreichen wir die Ebene der Wunder. Fakt! Daraus folgt Regel Nummer zwei: Traue nicht deinen fünf Sinnen. Wenn euch etwas widerfährt, Freude, Trauer oder Enttäuschung, sagt einfach: Stopp! Denn das ist vielleicht nur das eine Prozent.«
Immer, wenn er das Wort »Fakt« sagt, hebt er den Zeigefinger und schießt auf den Zehenspitzen in die Höhe. Am Ende eines jeden Donnerstagabends gibt der Israeli allen eine Kassette mit. Man darf sich seine Worte zu Hause noch mal anhören. Es ist eigentlich ganz einfach. Zum Beispiel die Sache mit dem Satanssystem: Der Gegner ist immer der Satan. Widerstandsformel 1: Erkenne eine Chaossituation. Widerstandsformel 2: Meine eigene Reaktion ist der Feind. Widerstandsformel 3: Stopp! Satan, du bist da! Ich stoppe das reaktive System. Widerstandsformel 4: Ich wechsle das System! Ich erkenne das Licht und manifestiere es. Das Erste, was wir ohne nachzudenken sagen oder tun, ist das Richtige.
»Die Bibel ist ein Code«, sagt der Israeli. »Kabbalisten lesen sie nicht als ein Medium der Botschaft, sondern das Medium ist für sie die verschlüsselte Botschaft selbst. Wie Jakob und Esau im 1. Buch Mose. Jakob repräsentiert das Licht, Esau das Vergängliche. Die Linsensuppe repräsentiert die Energie des einen Prozents. Wir haben die Entscheidung. Zwischen Erstgeborenenrecht und Linsensuppe.«
Stopp.
Da hat Rudolf eine Frage.
»Woher kommt eigentlich das g-ganze Wahnsinnswissen?«
»Es war immer da. In der Parallelwelt. Fakt! Die Kabbalisten waren vor 4000 Jahren damit verbunden. Die hebräischen Buchstaben sind die Verbindung zur DNA des Universums. Fakt!«
Double D meldet sich. Sie schnippt mit erhobenem Mittelfinger und Daumen.
»Müssen wir dazu Hebräisch lernen?«
»Nein. Es reicht, wenn wir die Buchstaben mit den Fingerspitzen berühren und sie mit den Augen scannen. Wie im Supermarkt. Wenn wir die Buchstaben ansehen, resonieren sie mit einer Energie-Sequenz in uns. Der Sohar spricht von der Kraft der Sequenzen.«
Am nächsten Donnerstag verteilt der Israeli Fotokopien. Darauf stehen die 72 Namen Gottes. Darunter 72 Wörter, die für Frantz ziemlich gleich aussehen und aus jeweils drei hebräischen Lettern bestehen.
»Scannt das. Jeden Tag eine halbe Stunde. Moses hat mit diesen Namen das Rote Meer geteilt. Fakt! Und kommt Montag in die Sohar-Klasse. Dort scannen wir gemeinsam und bekommen Schutz für die Woche. Fünfzehn Euro.«
Uwe lebt in Scheidung. Keine Kinder, keine Katzen.
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