Gehwegschäden
Kabbalisten sagen, so sechzehn Jahre.«
»Stimmt ja, das muss man wirklich ein ganzes Leben lang studieren.«
Die Frau blättert wieder im Sohar. Sie bedauert nun, dass sie die englischen Kommentare zum aramäischen Original nicht verstehen könne.
»Aber nein«, mischt sich eine blonde Frau ein, die aus Hannover gekommen ist. »Man muss sowieso nicht lesen. Man muss wirklich nur scannen. Die Juden haben ja das Problem, dass sie das lesen können. Da bleiben sie immer hängen.«
Genauso hatte es der Israeli einmal gesagt. Fakt.
Dieser erscheint und hält eine kurze Ansprache. Ein freudiger Moment steht uns bevor, in Kürze werde ein großer Kabbalist zu uns sprechen.
Das Licht geht aus.
Auf einem Video-Beamer sehen wir einen untersetzten Mann mittleren Alters mit Bart und Brille in einem hellblauen Hemd mit gestärktem Kragen und roter Fliege vor einer Wand aus alten Bücherrücken. Es ist Yehuda Berg. Sohn aus zweiter Ehe des Rabbi Phillip Berg, der einmal Feivel Gruberger hieß und in New York Versicherungsvertreter war, bevor er 1969 in Los Angeles ein Kabbala-Center gründete. Yehuda Berg spricht auf Englisch über das Motto des Monats. Er bewegt seinen Kopf rhythmisch. Die Kraft der Buchstaben Beth und Tzade. Es klingt wie ein Rap. Worte wie Tetragrammaton und Spiritual bank account folgen darin in atemberaubender Geschwindigkeit aufeinander. Am Ende resümiert er: We have to change. We have to leave our comfort zone. We have to donate. Dann erscheint ein Mann mit weicher Stimme. Das Kabbala-Center in Los Angeles hat zwanzig Tsunami-Opfer auf Sri Lanka unterstützt, säuselt er. Man sieht glückliche Menschen an einem Strand offenbar auf Sri Lanka, und es ertönt beruhigende Synthesizermusik. Jede Spende an das Center bringt Licht in dein Leben, sagt der Mann.
Das Licht geht an, das Licht geht aus.
Das Licht fällt auf Sarah, die kleine dicke Frau des Israeli.
Sarah sitzt an einem Pult. Vor ihr stehen Kerzen. Der siebenarmige Leuchter auf dem samtroten Deckchen. Der Israeli hat das immer in seiner alten Mappe dabei. Sie spricht mit ruhiger Stimme.
»Wir schließen die Augen.«
»Wir schließen die Augen«, murmeln alle.
»Wir sind entspannt.«
»Wir sind entspannt.« Es klingt wie ein Vaterunser am Sonntag.
»Wir heben ab«, sagt Sarah.
»Wir sehen unsere Stühle unter uns, den Raum, in dem wir waren, das Gebäude, wir sehen das Dach dieses Gebäudes, unter uns ist Berlin. Wir steigen höher, immer höher. Wir haben keine Angst, Gott ist mit uns. Wir steigen höher in den Himmel. Unter uns ist Deutschland. Wir sehen das Meer, wir fliegen über das Meer. Wir spüren den kalten Hauch des Windes, wir sehen schon die Berge von Israel, da ist Jerusalem, wir landen in Jerusalem vor dem Tempel. Dort ist Abraham. Dort ist David, Jakob, und wir sehen die Buchstaben Beth und Tzade, wie sie leuchten. Wir sehen das Licht und danken den Propheten, wir spüren das Licht in uns. Wir spüren die Wärme, wir sind erfüllt von der Energie des Lichts, wir spüren die Freude, das Licht, wir sind glücklich.«
Der Flug geht zurück.
»Drei, zwei, eins, wir wachen auf.«
Alle wachen auf und befinden sich im zweiten Stock des Vor-Atlantis-Ex-Zeitlos-Zentrums in Schöneberg. Frantz hört, wie die Frau mit der Gänseblume neben ihm leise stöhnt.
An diesem Donnerstag kauft Uwe, dessen Familienprobleme sich so plötzlich gelöst haben, als Erster den Sohar. Er kostet 430 Euro. Hans und Samirah möchten spenden. Rudolf, Double D und der Rektaltrinker wollen mit dem Israeli und Sarah, den Münchnern und Hannoveranern nach London zur Purim-Feier fliegen. Stephanauskas möchte auch gern mit, hat aber nicht so viel Geld. Und der Israeli dreht an diesem letzten aller lichterfüllten Donnerstage noch mal so richtig auf.
»Denn die Kabbala, das ist etwas viel Größeres, als ihr es euch vorstellen könnt!«, schreit er. Er sieht jetzt aus wie ein Gunslinger aus dem Spaghettiwestern. Es bleiben nur noch wenige Minuten.
»Und es ist Teil unseres Zeitalters, dass das Licht sich enthülle, es liegt an euch, jeden Tag und jede Stunde Licht zu empfangen!«, brüllt der Israeli.
Alle schreiben sich bei Sarah für den nächsten Kurs ein. Alle entrichten einen biblischen Zehnten an das Center. Alle zahlen in bar. Alle außer Stephanauskas und Frantz. Frantz steht auf. Packt seinen Stift und den Mini-Sohar ein, den er sich bei Sarah für elf Euro gekauft hat, man weiß ja nie. Er drückt dem weißhaarigen Letten die Hand.
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