Gehwegschäden
Stephanauskas lächelt. Furchtbar gern würde Thomas Frantz jetzt das Licht ausmachen.
17. Frantz genießt eine Prise Heimat am Hackeschen Markt und wird Opfer einer kriminellen Handlung
Abgerechnet wird im Siebenminutentakt, hat Thomas Frantz herausgefunden. Da erscheint ein Mime halb links auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt. Er setzt sich in Richtung der Oranienburger Straße und des Tramnachtplatzes mit Blick zum Bahnhof auf den Boden. Frantz wiederum sitzt im Weihenstephaner auf einem seiner geliebten Biergartenstühle mit Blick zur Spandauer Straße und hat sich einen Schweinsbraten in Dunkelbiersoße bestellt. Der schweizerische Gebirgsjägerrucksack mit den schweißnassen Boxsachen steht neben seinem rechten Fuß.
Bayern, Böhmen und Chinesen sind die Schweinefleischesservölker dieser Welt, aber das Weihenstephaner am Hackeschen Markt ist einer der letzten Orte dieser Stadt, wo es einen echten Schweinsbraten überhaupt noch gibt, und das um zehn Euro sechzig. Er blickt rechter Hand auf den Bahnhof und die Meile der Cafés davor mit ihren Sonnenschirmen, Bistrotischen und Hollywoodschaukeln. Früher hat man einen Schweinsbraten noch daheim gegessen. Man trank sein Bier in der Wirtschaft, aber zum Schweinsbraten ist man heimgegangen. Man ist praktisch zum Schweinsbraten hin gegangen, das hat der Polt einmal gesagt.
Frantz macht gern auf Polt und Bayerisch. Das macht ihm Spaß, dabei fühlt er sich wohl. Es hat nun mal etwas Beständiges, wenn man zum Schweinsbraten hin geht. Er verfällt dann in ein dem Bayerischen ähnliches Idiom, auch wenn die Kellnerin aus Ostberlin stammt. Erinnert es ihn an seine ferne Kinderheit? Was reizt ihn so sehr daran? Es ist doch alles wirklich ganz anders, als es damals vielleicht gewesen sein mag, in dieser Zeit, von der ihm nur noch schemenhafte Bilder geblieben sind. Er hat noch Geräusche im Kopf, aus dieser Zeit, so scheint ihm, bevor seine Eltern ihn weggaben in das Heim, das er nicht erinnert. Das Rücken eiserner Gartenstühle. Der Klang aneinanderstoßender gläserner Bierkrüge, wenn die Kellnerin die vollen Gläser bringt oder die leeren wieder wegträgt, das beruhigt ihn, das klebt noch in seinen Ganglien und Synapsen, das ist direkt verbunden mit Nabelschnur, mit Mama und Papa, die ihn mitschleppten in den Biergarten am Chinesischen Turm im Englischen Garten. Thomas Frantz weiß, dass er in München geboren wurde. Er hat keine Erinnerung an diese Stadt. Er weiß, dass seine Eltern sehr jung waren, damals. Er hat kein Bild von ihnen. Dass der Vater studierte. Das Klirren von Besteck in einem Kasten oder in den aufgestellten Bierkrügen auf den Tischen, wenn die Touristen darin kramen, das ständige Rücken der Tische. Seine Pflegeeltern im Osthessischen, die ihn herausgeholt hatten aus dem Heim, gingen nie mit ihm in den Biergarten. Am Tisch links neben ihm wird Spanisch gesprochen, rechts breitestes Texanisch. Es sind doch nur noch postembryonale Wahrnehmungen, die ihn da so einlullen, aus der Zeit, bevor ihn seine Eltern abgaben wie ein Hündchen, und abgerechnet wird im Siebenminutentakt, hat Thomas Frantz errechnet.
Vor ihm Schwedisch. So etwas interessiert ihn, denn er erkennt fast alle Sprachen, jedenfalls die wichtigsten, an ihrem Klang, an bestimmten Worten, darin ist er geübt. Manchmal folgt er Touristen, zwei, drei Straßen lang, nur um herauszufinden, welche Sprache sie sprechen. Erst wenn er sich sicher ist, wendet er sich ab. Selbst vor komplizierten osteuropäischen und asiatischen Sprachen schreckt er nicht zurück. Sie haben alle ihren spezifischen Klang, einen ganz bestimmten Tonfall, etwas, an dem man sie voneinander unterscheiden kann. Ken, das heißt »ja« auf Iwrit. Außerdem sind Israelis immer laut. Konichi wa! Japaner. Dyakuyu! Ukrainer. Tak, das kann aber sowohl ukrainisch als auch polnisch sein. All das hat Frantz gelernt, gegoogelt, gespeichert. Oui mit einem gehauchten, feinen und fast nicht ausgesprochenem »h« am Ende, daran erkennt man die Pariserin aus gutem Hause, biengsürr, den ungehobelten Südfranzosen. Es ist wie Stadt Land Fluss oder Kennzeichen auf der Autobahn erraten.
Der Büchsensammler ist geradezu bepflastert mit Ausweisen in allen Sprachen und Echtheitszertifikaten. Kinder in Not, das steht über und über auf ihm wie auf der Büchse, von Kopf bis Fuß ein einziges Kind in Not, dazu hat er noch einen in Plastik eingeschweißten Ausweis in der Hand, den er jedem Gast im Weihenstephaner mitsamt der
Weitere Kostenlose Bücher