Gehwegschäden
Krisenticker! 16.07 Uhr, Chiemgau: Rentner laufen Amok, entführen und foltern Anlageberater. 18.03 Uhr: In den USA so viele Menschen arbeitslos wie seit 1939 nicht mehr. Leute, der Krisenticker!«
Ansgar. Groß, schlank, Brille. Ein Mann Ende dreißig, Hagestolz mit verschränkten Armen im Rücken. Ansgar, pockennarbig wie langgesichtig, Spross einer berühmten Berliner Sozialdemokratenfamilie, brachte es im Bayerischen zum stellvertretenden Chefredakteur einer erzkonservativen Zeitung, wohnte in einer abgelegten Verlegervilla auf dem Land, sieben Zimmer, Kamin, Küche von Bulthaup, seine junge Freundin fuhr Z4. Sonntags flanierten die Menschen in ein freches Steingrau gewandet an seinem Swimming Pool vorüber. Dann heiratete seine Freundin – den alternden Verleger. Sie schenkte ihm zwei gesunde Söhne, hütete vier Bouviers des Flandres und fuhr Z8. Ansgar kehrte zurück nach Berlin und erwarb sich in den Kreuzberger Kneipen der schwarzen revolutionären Zellen den Ruf eines soliden Defätisten. Frantz schätzt Ansgars punktgenaue Expertisen zwischen zwei Getränken, wenn seine grauen Augen hinter den dicken Gläsern beständig nach links und nach rechts wandern, als könne jemand mithören. Ansgar stellt die große rote Zeitungstasche, die er wie eine Kugel vor seinem Bauch herzuschieben scheint, auf einen Hocker. Die Kugel und der dunkle Panzer seines Parkas einhergehend mit den fühlerartig abstehenden Ohren verleihen ihm das Aussehen eines Mistkäfers. Die Krise? Pillepalle. Peanuts. Diese Krisen kommen und gehen. Das ist erst der Anfang. Als Nächstes ist der Euro dran. Da wird’s schon spannender. Ansgars Mistkäferohren leuchten. Konspirativ neigt er sich zu Frantz und senkt die Stimme. Wenn die Banken sich erholt haben, wird man anfangen, auf die Pleiten ganzer Länder zu zocken. Ganzer Länder? Ja. Ganzer Länder. Ansgar blickt nach rechts und nach links und vollführt eine Mundbewegung, als wolle er auf den Boden spucken – Pärch! So wie es die Junk-Bonds-Händler in den achtziger Jahren mit den Unternehmen gemacht haben. Runterwirtschaften, zerschlagen und die Einzelteile gewinnbringend verkaufen. General Motors, American Savings & Loans. Die Sauerei fing an, als man die Idee der Aufklärung und des Liberalismus, Locke, Mill, Voltaire, durch die Idee des Wirtschaftsliberalismus ersetzte. Standard & Poor’s, Moody’s, Creditreform. Heute sind die Rating Agenturen die Hohepriester. Wir sitzen alle auf gepumpter Kohle. Wem gehört denn irgendwas? Häuser? Autos? Das Handy für die dreijährige Tochter ist doch schon geleast. Nein. Sie werden die Länder im Euroraum für zahlungsunfähig erklären. Dann wird man sie zerschlagen und ihre Einzelteile gewinnbringend verkaufen. Griechenland, Italien, Spanien. Und irgendwann ist Amerika dran. Die Amerikaner werden von den Geistern, die sie riefen, selbst am schlimmsten heimgesucht. Dann kommt es zu uns.
Frantz bestellt zwei Bier, der Mistkäfer quittiert die Order mit Wohlwollen und wackelt mit den Fühlern. Wenn das System aus der Balance gerät, frisst ein Fisch den nächstkleineren, bis die Meeresfauna aus Monsterwalen besteht. Google, Shell, Bertelsmann. Das Bier kommt sogleich, Ansgar schlürft eine Prise Schaum und schmatzt. Die Sardine hat da nix zu melden. Sie ist Futter oder Putzerfisch. Der Mensch hat einen Wert nur als Konsument. Sobald er aufhört, zu konsumieren und ein Zahnreiniger zu sein, wird man ihn für zahlungsunfähig erklären, zerschlagen und seine Assets gewinnbringend verkaufen. Der Mistkäfer nimmt einen mächtigen Schluck. Herz, Lunge, Nieren, Blut. Ein paar chemische Substanzen. Quecksilber, Fluor, Jod. Der Unterschied zur Verwandlung des Menschen in Zahngold oder Seife besteht darin, dass eine Niere einfach mehr einbringt. Er wischt sich den Mund und zuckt mit den Schultern, da tapert der Museumsheinrich auf seinem Weg zur Toilette vorbei und rollt seine kullerrunden Augen, Frantz bekommt langsam ein Gesicht wie ein Monchhichi und nuschelt etwas Unverständliches, aber der Mistkäfer ist nicht mehr zu bremsen: Das ist auch so ein Unterschied. Diesmal sind es keine Bestien, die uns das servieren. Es sind Saubermänner mit reinstem Gewissen und Schlössern im Tessin. Sie leben in einer Villa in Grünwald und engagieren sich im Umweltschutz. Es sind Lobbyisten. Aktienbesitzer. Anteilhaber, und sie manipulieren uns völlig legal mit ihrer Konzernpropaganda. Sie hüten eine Ranch in Texas und werden amerikanische Präsidenten. Sie
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