Gehwegschäden
Kinder, zwei, vier und fünf. Calimero kokst. Calimero ist nervös. Calimero gestikuliert mit den Händen. Seine flinken Augen brennen, muskulöse Zähne blitzen auf in diesem leicht ausgemergelten Gesicht. Oft sitzen Calimero und der Museumsheinrich auf dem alten weinroten Sofa, es ist ein Möbelstück aus der Gründerzeit und ein Bild für die Götter. Museumsheinrich, die Gemütlichkeit in Person, sehr rund, sehr ostig, sehr zufrieden, und daneben der magere kleine Calimero, wie er Whisky und Kaffee mit ganzen Zuckerstreuern in sich hineinschüttet. Museumsheinrich, gerade geschieden, Restaurateur, vormals Ringer, Spezialität Doppelnelson und gestreckter Armhebelüberwurf, drei Kinder, zweiundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig. Er hebt das Bierglas mit der Rechten in Zeitlupe zum Mund, nicht ohne gleichzeitig mit der Linken den langen grauschwarzen Bart glattzustreichen, er trägt ein weißes Hemd mit Stehkragen und schwarzes Gilet, Calimero sieht ihn an und verzweifelt; sie sind ein Team. Calimero programmiert. Museumsheinrich archiviert. Zusammen bilden sie eine Revolution. Vorbei die Zeit der Lochkartenablagesysteme, ganze Armaden von Museen reißen sich um die Gunst von Calimero und Museumsheinrich, sie haben gerade erst die gesamte ägyptische Sammlung des Pergamonmuseums digitalisiert, mehr als 1000 Teilstücke in weniger als sieben Monaten, dazu 3468 nie ausgestellte Fundteilstücke erfasst, die gelagert sind in tiefen Gruften und Kellern umspült von der Spree, weiß doch heute keine Sau mehr, was da in Karton 804/22 az rumliegt, den Professor xy 1923 aus dem Vorderen Orient angeschleppt hat, traut sich doch kein Mensch mehr ran an die verstaubte Kiste, darin 22 Bruchstücke einer Keilschrift aus babylonischer Zeit, das weiß der Museumsheinrich, aber daneben stehen noch vier weitere Kisten, deren Aufschrift gar nicht mehr erfasst geschweige denn entzifferbar ist, und was macht man sapperlot dann damit? Calimero qualmt wie ein Steinesel, die Retusche. Die Retusche ist ein Problem der Wahrheit und der Lüge, meint der Museumsheinrich. Calimero bestellt Whisky. Weil die Retusche die Wahrheit finden will, aber auf dem Wege der Findung der Lüge erliegt. Weil sie sich anpasst, weil sie vortäuscht und diese Vortäuschung der Ansatz der Lüge ist. Museumsheinrich nimmt seine Brille ab und putzt die runden Gläser, sehr bedächtig, zwölf Minuten. Zwölf Minuten, sagt das italienische Gastarbeiterkind, alle Gedanken, alle Handlungen, die über zwölf Minuten hinausgehen, sind nichts wert. Du wirst es mir wieder mal nicht glauben, aber gestern war ich in Clärchens Ballhaus, und da war ein hübsches Mädchen auf der Tanzfläche, ich tanz also rüber zu ihr und sprech sie an, sie lächelt, der Museumsheinrich setzt seine Brille auf, rückt sie auf der Nase zurecht und justiert den linken runden Spanndrahtbügel über seinem Ohr. Acht Minuten hat das gedauert, sagt Calimero, ich habe acht Minuten mit ihr getanzt und geredet, dann sind wir rauf in den alten Spiegelsaal, die Tür ist immer offen, und es ist dunkel da drin, keine Menschenseele, das hat noch eine weitere Minute gedauert, und dann hat sie mir da oben einen geblasen. Ich meine, das ist es doch. Richtig gut einen geblasen kriegen. Nach drei Minuten bin ich gekommen. Macht insgesamt zwölf. Museumsheinrich dreht seinen Kopf und sieht den Philosophen mit großen kullerrunden Augen an. Und ich behaupte einmal, alles, was im Leben über zwölf Minuten hinausgeht, ist nichts wert. Zwölf Minuten, das ist die magische Zeitgrenze. Calimero rümpft die Nase. Alle Gedanken, alle Handlungen. Zwölf Minuten. Sonst nichts. Museumsheinrich steht auf, er schnauft ein wenig und tapert zur Toilette, tuff, tuff, tuff, wobei sein Spielbein leicht aussichelt und das Körpergewicht über die Achse des Standbeins hinaus verlagert wird, tuff, tuff, tuff, zwölf Minuten, und sonst gar nichts.
Frantz gesellt sich wieder an den Tresen, da schneit der Zeitungsverkäufer herein.
»Krisenticker, Krisenticker! Leute, lest den Krisenticker! 11.21 Uhr: Zeitpunkt schlecht gewählt. Nur wenige Tage vor Bekanntwerden des Gewinneinbruchs hat der Vorstand der Deutschen Postbank noch Sonderzahlungen in Millionenhöhe erhalten. Krisenticker, lest den Krisenticker! 13.56 Uhr: Schriftsteller Enzensberger sieht Kapitalismus nicht in Gefahr. Bisher hat sich dieses proteische Monster noch jedes Mal aufgerappelt, weil es verdammt lernfähig und keine Alternative in Sicht ist,
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